Mittwoch, 5. November 2014

Trockener Humor - Chaostour durch die Wildspitz-Nordwand

"Nordwand". "Chaos". "trockener Humor"?! Wie passt das wohl zusammen? Also "Nordwand" lässt sich schnell erklären, das war schließlich auch ein sehr schneller Entschluss. Es hatte im Oktober immer wieder geschneit und dazwischen hatte die noch recht kräftige Sonne den Schnee auf den Ötztaler Eiswänden in guten Trittfirn umgewandelt, also beschlossen Florian und ich spontan: Wir gehen in den Herbstferien Nordwände klettern und eröffnen die (Touren-)Skisaison!
Soviel zu "Nordwand", für "Chaos" muss ich allerdings weiter ausholen...

Es fing ja schon an, als wir frühs in Mittelberg im Pitztal ankamen. Wir wollten mit dem Gletscherexpress ins Skigebiet Pitztaler Gletscher und mit der Gondel zum 3166 Meter hohen Mittelbergjoch fahren, das Ausgangspunkt für viele Ski- und Hochtouren im Taschachgebiet ist. Nicht zuletzt für die prominente 3770 Meter hohe Wilspitze. Unser Plan war nun, die bleischweren Rucksäcke - wir wollten immerhin drei Nächte auf dem Gletscher zelten und benötigten dementsprechend viel Material - am Joch zu deponieren und den restlichen Tag im Liftgebiet Ski fahren.

Schwer beladen mit ca 43 Kilo...

Nachmittags würden wir die Rucksäcke abholen, auf der anderen Seite des Jochs zum Gletscher absteigen und dort unser Lager beziehen.
Als wir jedoch frühmorgens lange vor der ersten Bergfahrt aus dem Auto stiegen, mussten wir schon feststellen, dass wir uns wohl mindestens eineinhalb Stunden in die lange Schlange von Liftbesuchern einreihen mussten. Und hier gab es dann schon das erste böse Omen, als ich im Gedränge einen Schneeteller vom Skistock verlor. Das mag zwar harmlos klingen, stellt beim Skitouren gehen, also wenn man mit Ski und Steigfellen auch bergauf geht, ein ernstes Problem dar, da der Stock beim Belasten nämlich einfach bis zum Griff im tiefen Schnee verschwindet. Naja, wird schon irgendwie gehen. Die Rucksäcke sind schnell deponiert, und voller Euphorie stürzen wir uns ins Skigetümmel auf die Piste. Das Wetter ist perfekt, die Pisten sowieso, und mein neuer Ski ist ein gigantischer Gewinn im Vergleich zum letzten.
Doch die Euphorie hält nicht allzu lange an, denn schon bald tauchen die nächsten bösen, diesmal deutlich bedrohlicheren Vorzeichen auf: Wir zeigen beide fortgeschrittene Symptome von Höhenkrankheit, immerhin reicht das Skigebiet bis in 3440 Meter Höhe auf. Wir ärgern uns, schließlich haben wir beide im Vorraus sehr viel getrunken, was Höhenkrankheit eigentlich effektiv vorbeugt. Vielleicht lag es auch an mangelndem Schlaf im Vorfeld, wir kamen beide direkt von einem anstrengenden Ausbildungswochenende der Bergwacht, und ein Endspurt zu meiner Seminararbeit mit diversen Nachtschichten hat der Sache mit Sicherheit auch nicht gut getan. Wie auch immer, die Symptome lassen ich nicht ignorieren. Wir haben Kopfschmerzen und Schwindel, außerdem verhalte ich mich fast wie betrunken. Also machen wir Pause am tiefsten erreichbaren Punkt, trinken so viel wir können - wir kommen auf über 12 Liter an diesem Tag! - und ruhen uns aus. Ein paar mal müssen wir solche Pausen machen, dennoch nutzen wir unser Liftticket aus und genießen den ersten Skitag der Saison.
Um halb viel haben wir genug, wir holen unsere Rucksäcke ab und fahren, besser gesagt rutschen zum Taschachgletscher hinunter. Ein kurzer Gegenanstieg bringt uns etwas abseits der üblichen Aufstiegsroute. Nun werden die Lawinenschaufeln ausgepackt und wir schaufeln mit großem Enthusiasmus einen windgeschützten Platz für unser Zelt, mit Ablagen für Ski und Kocher, ja sogar zwei Sonnenliegen werden in den Schnee moduliert - immerhin wollen wir ja drei Tage hier bleiben...

Fast wie Iglu-Bauen als wir noch Kinder waren.

Doch dann höre ich den Satz, den ich nie in den Bergen hören wollte. "Der Kocher geht irgendwie nicht..." Florian kämpft verzweifelt mit dem Benzinkocher, der uns in der Höhe und bei den kalten Temperaturen ja eigentlich zuverlässige Dienste leisten sollte. Schließlich gibt er mit starren Fingern auf ich versuche in der eisigen Abendkälte auch noch kurz mein Glück - keine Chance, der Kocher spuckt ab und zu kurze Brennstoffstöße aus, aber Druck lässt sich nicht in der Benzinflasche aufbauen und somit keine konstante Flamme erreichen. An Kochen ist nicht zu denken, ich krieche ebenfalls ins Zelt und wickle mich mit Schlafsack und Daunenjacke ein. Okay, die Nudeln werden schnell kalt gegessen, hilft ja eh nichts. Das große Problem ist vielmehr, dass wir keinen Schnee schmelzen können und somit nichts zu trinken haben. Das wäre aber geradejetzt dringend nötig, denn unsere Höhenkrankheit meldet ich wieder. Eigentlich müssten wir jetzt noch zweieinhalb bis dreieinhalb Liter trinken, vom Flüssigkeitsbedarf während den Touren ganz zu schweigen! Leider haben wir aber nur noch pro Person ca zwei Liter Wasser und außerdem einige Dosen mit Gerstenkaltgetränk, die eigentlich für gemütliche Abende im Basislager bestimmt waren. Wir beschließen, erstmal die Nacht hinter uns zu bringen, was auch ein fast endloses Unterfangen ist bei fast dreizehn Stunden Dunkelheit...
Am nächsten Morgen wachen wir bereits dehydriert mit pelziger Zunge auf, wir sind uns aber einig die Flüssigkeitsreserven zu nutzen um wenigstens eine der geplanten Touren anzugehen. Diskussionslos einigen wir uns sofort auf das Königsziel unseres Repertoires, die Nordwand der Wildspitze. Da wir beide Erfahrung mit Höhenkrankheit haben, wissen wir sehr genau, dass die Tour vom Zelt bis zum Gipfel eine einzige Quälerei werden würde, aber der Kampfgeist als Gegenspieler fletscht bereits die Zähne und so marschieren wir mit Tourenski los in Richtung Wand.


Der Zustieg zur Wand ist eigentlich nicht schwer, dennoch brauchen wir recht lange.

Unsere Vermutung bezüglich der Quälerei bestätigt sich quasi sofort, die Höhenkrankheit schlägt mit voller Wucht zu. Wir bewegen uns im Schneckentempo, eine Stimme hämmert unablässig im Kopf und erzählt verführerisch etwas von warmen Betten, Badewannen oder nur von der Sonne. Die sehen wir nämlich aufgrund der Ausrichtung der Hänge überhaupt nicht, obwohl wir sie uns nach der kalten Nacht doch so sehr wünschen...

Kurz vor dem Bergschrund.

Am Fuß der Wand steigen wir mit den Tourenski noch bis zum Bergschrund, also der Spalte, die das feste Eis der Wand vom fließendem Gletscher trennt. Hier halten wir an, die Ski wandern an den Rucksack und die Steigeisen an die Schuhe, Eisäxte werden gezückt und das Seil geordnet. Ich sollte eigentlich die erste Länge vorsteigen, danach wollten wir am laufenden Seil gehen. Also stapfe ich mal los richtung Bergschrund. Die Spalte zeigt sich eigentlich nur durch schwache Konturen im Schnee, da sie oberflächlich komplett mit grieseligem Pulverschnee zugeweht ist, doch sie zu überwinden ist gar nicht so einfach. Die Eisen greifen nicht im lockerem Schnee, und nachdem ich die Konturen der Spalte freigewühlt habe finde ich nur morsches Eis, das fast ebenso wenig Halt gibt. Zu allem Überfluss breche ich auch noch immer tiefer in die Spalte ein, doch nach einigen wenig eleganten Schwimmbewegungen habe ich dieses Hindernis endlich hinter mir. Nun geht es schneller voran, der Schnee ist relativ griffig und tief genug, sodass man nicht nur auf den Zehenspitzen steht und somit die Wadenmuskulatur nicht übermäßig anstrengen muss.

Die ersten Meter der Wand.

Allerdings ist der Schnee auch so tief, dass ich darunter kein festes Eis finden kann und somit keine Sicherung legen kann. Also hole ich nach der ersten Seillänge das Seil ein und lege es mir um die Schulter, wir gehen seilfrei. Dieser taktische Fehler - der uns allerdings überhaupt nicht auffiel - hatte zur Folge, dass ich durch den Rest der Tour mit dem Zusatzgewicht vom Seil und den ganzen Eisschrauben und Expressschlingen belastet bin.

Im steilen Mittelstück der Nordwand.

Im unteren Drittel steilt die Wand zwischenzeitlich ziemlich auf, was sich auch auf unsere Verfassung auswirkt. Wir gehen mittlerweile maximal fünf Schritte am Stück, danach folgt eine ebenso lange Verschnaufpause. Verlockend winkt der Westgrat herüber, zu dem wir jedezeit ohne großem Aufwand hinüberqueren könnten, doch diese Verlockungen werden nach kurzem Zähnezusammenbeissen sofort vom bereits erwähnten Kampfgeist verjagt (in Form eines mutierten Schäferhundes mit Drachenkopf, der genauso hungrig ist wie wir selber - und das ist SEHR hungrig).

Durch Höhenkrankheit und Erschöpfung kauerten wir öfter über den Eisgeräten und rangen um Luft, als dass wir wirklich kletterten...

Doch endlich wird die Wand flacher, was ich zunächst gar nicht bemerke. Erst als die Sonne meine Augen blendet dämmert es mir, dass das nur bedeuten kann, dass wir gleich am Gipfel sein müssen. Wir sammeln unsere Kräfte und rennen die letzten Meter zum flachen Gipfel (Außenstehende hätten dies eher als torkeln bezeichnet...)

Endspurt!

Handschlag am Gipfel, erst Rucksack fallen lassen, dann uns selber daneben. Wir sind überglücklich, nicht nur weil das unsere erste Nordwand war, sondern auch ob der überwundenen ungeplanten Schwierigkeiten. Und der Berg belohnt uns großzügig dafür. Wir sitzen im Schnee auf 3770 Meter Höhe in der Sonne, es weht nicht mal ein laues Lüftchen und das Panorama reicht von der Ortlergruppe über das Berninamassiv und die Silvretta zur Zugspitze und weiter über Stubaier und Zillertaler Berge bis zum Großvenediger. Im Süden steht die gesamte Skyline der Dolomiten zur Schau und hinter der Silvretta können wir sogar die Walliser Viertauender erkennen. Auch können wir es jetzt vertreten, die Flüssigkeitsreserven des Hopfenblütensafts zu nutzen. Allerdings hat Florian einige bedenken bezüglich der Kombination aus Alkohol und Höhenkrankheit, immerhin muss er später noch Auto fahren, und so liegt es an mir die Hülsenfrucht zu verzehren - was sich übrigens nicht auf die (im Normalfall sowieso eher fiktive) Eleganz meiner Skischwünge auswirkte.

Freude und Erleichterung am Gipfel, dazu Traumwetter und Panorama!


 Die Fernsicht ist gigantisch, wir lassen uns Zeit am Gipfel...

Nach der Gipfelrast machen wir uns fertig für die Abfahrt, den zwei Meter höheren Südgipfel der Wildspitze lassen wir aus - dort stand ich außerdem schon vor zwei Jahren ebenfalls mit Skiern.
Wir finden die fast 45° steile Rinne zwischen den beiden Gipfeln mit griffigen Firn vor, und so erlauben wir uns dieses skifahrerische Gourmetstück noch, wissend dass die weitere Abfahrt über den Taschachgletscher mangels Gefälle nicht so viele Schwünge bereithält. Florian fährt mit gekonnten Schwüngen durch den Hang, ich fotografiere von oben. Dann bin ich an der Reihe, doch den ersten Teil der Rinne rutsche ich noch seitlich ab, bis ich die unteren zwei drittel auch mit den ach so geliebten rhythmischen Skisportbewegungen hinter mich bringe.

Ganz ordentliche Rinne für den Saisonstart.

Der Adrenalinkick hält auch bis ins Basislager an, doch als wir dort ankommen ahnen wir bereits, dass die Geschichte noch nicht zu Ende ist.

Rückkunft am Basislager.
Nach kurzer Pause packen wir alles in die Rucksäcke und bauen das Zelt ab, uns steht noch der Aufstieg ins Mittelbergjoch bevor, wo wir wieder das Skigebiet betreten. Doch mit vierzig Kilo werden diese 90 Höhenmeter zur Quälerei, zumal hier der taktische Fehler zum tragen kommt, durch den ich immer noch alle Eisen und und das Sicherungsgerödel im Rucksack habe. Florian geht in seinem Tempo recht zügig den Hang hinauf, ich folge zunächst, doch die Höhenkrankheit hat mich vollends erwischt. Das Adrenalin ist längst verschunden und der Kampfgeist liegt stolz ob des bisher Geleisteten in seiner Hundehütte und kümmert sich um nichts mehr. Also wühle ich mich unter wüsten Flüchen den mittlerweile weichen Schnee hinauf. Ich gehe abschnittsweise, immer einen meiner zwei Rucksäcke zurücklassend, doch auch so komme ich kaum voran. Mittlerweile halluziniere ich fast durch die Höhe, die Welt schwankt irgendwo hinter einem Schleier aus Schweiß und Erschöpfung. Zwei Tourengeher überholen mich, ich stammle Erklärungen in denen ich die lauten Flüche mit meiner Rhöner Herkunft zu rechtfertigen suche, doch Florian hat zwischenzeitlich gemerkt, dass etwas nicht stimmte und kommt mir entgegen. Er nimmt einen meiner Rucksäcke, und so schaffen wir es endlich ins Joch. Für die 90 Höhenmeter haben wir fast eineinhalb Stunden gebraucht!

Von nun an geht es im Skigebiet bergab, auch das stellt angesichts unserer Beladung eine Herausforderung dar. Doch wir kommen mehr schlecht als recht an der Gondel an, die zum Glück kein Drehkreuz hat und mit der wir bis zur Mittelstation fahren können. Dort haben wir das Problem, dass wir keine Liftkarten haben (wir hatten ja Tageskarten), aber im Gletscherskigebiet werden an der Mittelstation logischerweise keine Karten verkauft. Nach einigen Diskussionen lassen uns die Seilbahnmitarbeiter angesichts unseres und vor allem meines Zustandes kostenlos ins Tal fahren. An dieser Stelle nochmals herzlichen Dank dafür!

Nachdem wir etwas gegessen und getrunken haben fahren wir noch am selben Tag nach Hause, wo ich abends um zehn Uhr ankomme, in Bett falle und fünfzehn Stunden am Stück schlafe...


Fehlt eigentlich noch "trockender Humor". Nunja, Humor hatten wir zwischenzeitlich schon. Zum Beispiel durch die Tatsache, dass Viagra aus medizinischer Sicht eines der wichtigsten Medikamente zur Bekämpfung von Höhenkrankheit ist, sodass hier einige flache Witze über "Skihaserl" und co gerissen wurden.
Wieso der Humor "Trocken" war liegt aber natürlich nur im Flüssigkeitsmangel begründet...