Dienstag, 29. Dezember 2015

Zustiegsski - Winterbergsteigen mit der Geheimwaffe

Es ist ja so eine Sache mit den Hochtouren in den Alpen. Im Sommer ist das Bergsteigen ja ganz angenehm, man friert wenig, es gibt keine Lawinengefahr, man muss nicht viele Klamotten mitschleppen. Leider ist zu dieser Zeit auch verdammt viel los. Bergeinsamkeit? Fehlanzeige. Dazu kommt, dass während der klassischen Hochtourenzeit zumindest in den Ostalpen kaum eine Eistour brauchbare Verhältnisse aufweist. Nordwände sind dann nur noch graue Blankeisflecken, geziert von unzähligen Steinschlagriefen...
Anders dagegen sieht es im Spätherbst und Frühwinter aus. Zum Skitourengehen reicht der Schnee noch nicht aus, zu Fuß dagegen versinkt man im bodenlosen Schnee zwischen den Felsblöcken. Dafür sind Nordwände und Eisrouten meistens in besseren Zustand wie je zuvor. Die kalten Nächte und milden Tage zaubern Eislinien und Trittfirn, wie man sich nur wünschen kann. Klar, die Tage sind auch etwas kürzer, dafür aber hat man quasi von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Zeit, weil die tiefstehende Sonne kaum für einen schlimmen Anstieg der Temperatur sorgt. Anders als imm Sommer, wenn man spätestens mittags wieder im Tal sein sollte.


Doch wie kommt man nun zu den Nordwänden und Eisrouten? Der Zustieg ist der Schlüssel, wenn man nicht hinkommt wird man es nicht klettern. Zu wenig Schnee für Tourenski, zu viel um zu Fuß zu gehen. Mit Schneeschuhen ist man definitiv zu langsam für das Hochgebirge...
Das Zauberwort heißt Zustiegsski. Kurze, leichte Renn- oder Kinderski, 130-140cm lang, ausgestattet mit einer leichten Rahmen- oder Dratbügelbindung. Egal ob klassische Silvretta 404 oder luxuriöse Pure Performance, jede Bindung dieser Art ist unter Vorbehalt mit voll steigeisenfähigen Bergschuhen fahrbar.
Bewaffnet mit solchen Kurzski wird man zur ultimativen unglaublich schnellen Winterklettermaschine. Im Aufstieg bewegt man sich auch bei tiefen Pulverschnee oder Bruchharsch noch so schnell wie im Sommer. Beim Klettern stören die kurzen leichten Ski kaum, zumal man ja auch mit präzisen Bergschuhen klettert, und nicht in klobigen Skischuhen. Reicht der Schnee nicht bis zum Parkplatz, dann kann man mit Bergschuhen die Ski auch bequem ein paar Stunden tragen.


Die Sache hat natürlich auch einen Haken, klar. Denn bergab fahren mit 130cm langen Ski in Bergschuhen ist in etwa wie Badminton mit einer Bowlingkugel: Nämlich sche*ße. Stellt euch mal mit offenen Skischuhen in eine offene Tourenbindung und setzt einen schweren Hochtourenrucksack auf, dann versteht ihr was ich meine. Am Anfang denkt man, das geht doch nie. Aber nach ein bisschen Herumprobieren hat man irgendwann den Trick raus, dass man in Bergschuhen den Ski fast ausschließlich über die Fußsohle steuert. Und wenn man erstmal mit Zustiegsski fahren kann, dann ist das in etwa so, wie wenn man ein dunkles magisches Geheimnis kennt, von dem sonst niemand etwas weiß. Und dann wird man plötzlich zur Nordwandmaschine. 


Natürlich wollte ich auch mal diese Geheimwaffe ausprobieren. Rennski, die leichteste Variante, kam aus Kostengründen nicht in Frage. Also besorgte ich mir ein Paar Fischer Prodigy Junior in 135cm Länge und montierte eine Silvretta Pure Performance Carbon darauf. Immerhin hatte ich so wenigstens die leichteste Bindung für diesen Einsatzzweck, sodass ich bei 1800 Gramm pro Ski herauskomme. Richtig schwer im Vergleich zu Rennski, klar, aber den eigentlichen Vergleich muss dieses System schließlich mit Schneeschuhen bestreiten. Und da ist es klar im Vorteil. Auch die Kinderski zeigen schnell ihre Vorteile gegenüber Rennski: Sie sind auf eine besonders leichte Schwungeinleitung abgestimmt und haben einen langen, fehlerverzeihenden Rocker. So sollen sie eigentlich Anfängern die ersten Schwünge erleichtern, doch mit Bergschuhen ist man auch als erfahrener Skifahrer äußerst dankbar für diese Gutmütigkeit.


Nachdem ich die Ski bereits an der Weißseespitze (Bericht) mit ein paar wenigen Schwüngen auf der präparierten Piste testen konnte soll nun, Anfang November, die Feuertaufe stattfinden: Bewaffnet mit Kinderski, Eisgeräten und einem unbeschreiblich schweren 95-Liter-Rucksack fahre ich mit Bus und Bahn ins Pitztal und mit der Stollenbahn hinauf ins Gletscherskigebiet. Das Geld für das Ticket direkt zum Mittelbergjoch will ich mir sparen, also schleppe ich nun das gigantische Monstrum von Rucksack fünfhundert Höhenmeter über die Pisten nach oben. Ich verkaufe mir selber die Schinderei als Akklimatisierung, naja.
Am Mittelbergjoch angekommen steige ich die leider immer länger werdende Strecke zum Taschachferner ab und schaufle mir auf einem herrlich gelegenem Podest einen Platz für mein Zelt aus. Im Grude soll das mein Basislager sein, doch das kleine Einmannzelt lässt eher Biwakstimmung aufkommen...


Immerhin sitze ich schon um elf Uhr in der Sonne und habe so wirklich genug Zeit zur Akklimatisierung. Am nächsten Morgen stehe ich gleichzeitig mit dem Sonnenaufgang los und schlurfe lange vor Liftöffnung über den Taschachferner. Mein Ziel für heute ist die Nordwand des Hinteren Brochkogels, optisch immer noch eindeutig die schönste Firnflanke der Ötztaler Alpen. Eingebettet von mehreren Felspfeilern ziehen Firnrinnen direkt zum perfekten, pyramidenförmigen Gipfel, oben gekrönt von einem 90° steilen Eiswulst.


Beim Zustieg können die Ski wieder voll überzeugen. Trotz relativ tiefen Schnees komme ich fast zügiger voran als im Sommer, und am Wandfuß angekommen verschwinden die kleinen Ski problemlos am Rucksack. Der ist dann kaum schwerer, als ich Steigeisen und Eisgeräte dagegen getauscht habe und über den Bergschrund klettere. Im unteren Teil überwiegt wieder einmal das wühlen im tiefen Schnee, doch etwa ab Wandmitte stoßen die Steigeisen immer wieder auf hartes Blankeis unter der dünnen Firnauflage. Die Anspannung in mir steigt, genauso wie das Brennen in den Waden. Doch ich fühle mich gut und komme wenigstens schnell voran, sodass ich schon bald unter dem Eiswulst stehe. Zwar reizt mich das direkte überklettern des monströsen Buckels schon, aber ohne Seilsicherung entscheide ich mich doch lieber, in einem linksbogen durch eine etwas flachere Eisrinne auszuweichen. Nach kurzen, aber erbitterten Kampf mit dem harten Eis stehe ich plötzlich unerwartet am Gipfel. Und was für ein Gipfel! der Hintere Brochkogel steht völlig exponiert wie ein Aussichtsturm über dem Taschach- und Vernagtferner. Auf jeder Seite fallen die Grate und Wände sofort steil ab, sodass der Blick wirklich wirkt wie aus dem Flugzeug. Nach kurzer Rast steige ich über den steilen und ausgesetzten Nordgrat ab. Zwischen tiefen Schnee warten auch immer wieder kurze Kletterstellen, bei denen ich nichtmal merke, dass ich ja eigentlich Ski am Rucksack habe. Und so dauert es nicht lange, bis ich am Bergschrund wieder Steigeisen gegen Ski tausche und über die herrlichen Hänge zurück zum Zelt fahren kann. Ich brauche nicht mal zehn Minuten für eine Strecke, für die mit Schneeschuhen über eine Stunde zu veranschlagen wären...



Für den nächsten Tag habe ich mir ein höchst exklusives Ziel gesetzt: Den langen Jubiläumsgrat zur Wildspitze, direkt beginnend am Mittelbergjoch. Vor einem Jahr hörte ich zufällig von dieser Tour, hier am Mittelbergjoch, als wir beim Abfellen nach der Wildspitz-Nordwand (Bericht) uns kurz mit anderen Tourengehern unterhielten. Zwar fiel der Name der Tour, auch das Mittelbergjoch als Startpunkt wurde erwähnt, doch niemand wusste etwas genaueres. Ein Jahr lang spukte diese Tour daraufhin in meinem Kopf herum. Selbst im Internet waren keine Informationen zu finden, Fotos und Google Earth ließen keine Rückschlüsse auf die Schwierigkeiten zu. Ein echtes Abenteuer also, genau das was ich suchte. Entsprechend angespannt war ich also am Abend vor der Tour, frühs konnte ich beim besten Willen nichts essen. Eine Stunde vor Sonnenaufgang stapfe ich bei klirrender Kälte los und wühle mich durch hüfttiefen Schnee vom Mittelbergjoch den steilen Grat zu den Hohen Wänden. Hier sehe ich zum ersten Mal die Sonne, was für eine Wohltat! Den stark überwechteten Gipfel der Hohen Wände umgehe ich im sicheren Abstand auf der Südflanke, hier finde ich sogar guten Trittfirn. Doch das sollte bald vorbei sein... 



Nach eineinhalb Stunden Wühlerei durch tiefen, steilen Schnee in eisiger Kälte offenbart sich mir nun dieser fast schon entmutigende Blick auf den Weiterweg. Das noch weit entfernte Ziel ist der eisige Gipfel der Wildspitze rechts im Bild.
Was nun folgt könnte man eigentlich als eine Ansammlung der schlimmsten Bergsteiger-Abträume beschreiben. Auf und Ab, hüfttiefer Schnee und delikate Kletterstellen in brüchigen Fels, gewürzt mit einem kräftigen Schuss Föhnsturm. Doch ich fühle mich gut, ja, ich würde sogar sagen ich habe mich selten so gut gefühlt, auch wenn es komisch klingt. Und so setzte ich den Auftieg über diesen unbekannten, aber wunderschönen langen Grat auf Tirols höchsten Gipfel fort.
Irgendwann bin ich an der Scharte unter dem Schuchtkogel angekommen. Hier habe ich fast die Hälfte der Kletterstrecke hinter mir, also gönne ich mir eine kleine Pause, nichtsahnend dass der entscheidende Teil erst kommen sollte. Nach der kurzen Rast versuche ich den Vorgipfel des Schuchtkogel zu umgehen, indem ich direkt in die Scharte zwischen Vor- und Hauptgipfel aufsteige. Was leicht aussah entpuppt sich als alpiner Eiertanz über abwärts geschichtete Felsplatten mit loser Schneeauflage, im wahrsten Sinne des Wortes gekrönt von einer 70° steilen Wechte.
So komme ich ohne wirklichen Zeitgewinn am Gipfelgrat des Schuchtkogels an, der sich steil empor windet. Über abschüssige Felplatten, senkrechte Aufschwünge und viel viel Schnee balanciere ich mich nach oben. Der Blick vom Gipfel in die gegenüber liegende Nordwand der Wildspitze ist atemberaubend, doch ich habe kaum eine Sekunde dafür übrig. Ohne anzuhalten folge ich dem leicht abfallenden Grat, der hier fast schneefrei ist und aus bestem Granit besteht. Allerdings bietet dieser Granit auch anspruchsvolle Kletterstellen im oberen dritten Grad, die ich mit Steigeisen und Ski am Rucksack bewältigen muss. Das lässt mich trotzdem noch relativ kalt, ich mache mir eher Sorgen um den Gratgendarm, der sich vor mir aufbaut: Drei große scharfe Granitzacken, senkrecht nach Norden und nach Süden überhängend, jede Spitze höher als ein dreistöckiges Haus. Die Szenerie wirkt wie ein Bergtransplantat von Chamonix nach Tirol. Ein Überklettern ist unmöglich, soviel ist klar. Von den Hohen Wänden aus konnte ich vorhin ein Band ausmachen, dass unter den Spitzen auf der Nordseite entlang führt, doch dieses Band entpuppt sich jetzt als steiler Plattenschuss, der nach unten in eine senkrechte Felsstufe und darunter in eine steile felsdurchsetzte Eiswand abbricht. Was nun? Umkehren? Nein, das wäre auf jeden Fall genauso aufwendig und schwierig. Vorsichtig, auf dem Bauch liegend rutsche ich über den steilen Plattenschuss. Mit den Eisgeräten schaufel ich den Schnee über mir weg, um einen Riss zum Hooken zu finden. Der Schnee rieselt mir in den Nacken, in die Ärmel und läuft als kalte Rinnsale über meinen Rücken. Die Handschuhe sind auch schon klatschnass, doch das alles merke ich erst viel später. Hochkonzentriert arbeite ich mich Stück für Stück über die steilen Platten. Unter dem Schnee warten versteckte, heikle M4+ Kletterstellen. Irgendwann, nach einer gefühlten Unendlichkeit legen sich die Platten doch noch zu einem Band zurück. Von diesem Band muss ich nur noch ein paar Meter durch einen steilen Kamin abklettern, bis ich in der Scharte endlich wieder sicheren Boden unter den Füßen habe.
Erschöpft gönne ich mir noch eine Pause, diesmal weiß ich sicher, dass das Schwierigste nun hinter mir liegt. Es folgt noch ein weiterer schrofiger Gipfel, danach stehe ich am Rofenkarjoch. Hier beginnt der eigentliche Nordostgrat zur Wildspitze, ein feiner Firngrat, den viele Bergsteiger fälschlicherweise für den Jubiläumsgrat halten. Dieses letzte Stück wird häufig begangen, dabei ist es im Grunde nur der krönende Abschluss des eigentlichen Jubiläumsgrates, sozusagen das Sahnehäubchen. Das Gelände hier ist einfach, nach der Kreuzerschneide, der Schulter der Wildspitze folgt noch ein kurzes 50° steiles Stück zum Nordgipfel. Mittlerweile merke ich die Anstrengung und vor allem die Höhe, ich schaffe kaum zehn Schritte ohne Pause. Trotzdem komme ich irgendwann am Nordgipfel an, und natürlich gehe ich auch gleich weiter über den Verbindungsgrat zum höheren Südgipfel.
Nach etwas über sechs Stunden Kletterei schlage ich am Gipfelkreuz an, hinter mir liegen Schwierigkeiten von 70° im Eis, Fels bis III und Mixedgelände bis M4+, solo. Und der Berg scheint mir zu gratulieren, ich werde mit einer unglaublichen Fernsicht belohnt, außerdem bin ich ganz allein bei Windstille am Gipfel. Vom Skidepot aus folgt wieder eine entspannte Abfahrt zum Zelt, doch heute sind meine Spuren nicht so elegant...

Am nächsten Morgen packe ich alles zusammen und steige ganz in der Früh auf zum Mittelbergjoch, um über das Skigebiet abzufahren. Ich bin extra vor dem ersten Lift aufgestanden, denn so kann keiner sehen, wie ich mit dem riesigen Rucksack mit Bergschuhen und Kinderski ins Tal wackle. An der Gletscherzunge des Mittelbergferners ist auch die Schneegrenze, danach sind fast 800 Höhenmeter Skitragen angesagt. Mit Bergschuhen aber kein Problem.



Direkt vom Pitztal aus fahre ich mit Bus, Bahn und wieder Bus ins hintere Stubaital, wo ich an der Talstation der Gletscherlifte übernachte. Am nächsten Morgen treffe ich mich mit Marko und meinem Vater, zusammen fahren wir mit dem ersten Lift ins Schaufelkarjoch und schwingen ein paar hundert Meter hinunter ins Gaiskar. Wir wollen die Nordwand des Zuckerhütl klettern, aber irgendwie mit ganz unterschiedlichen Ansätzen: Marko ist mit leichten Ski mit Pinbindung und leichten, aufstiegsorientierten Tourenschuhen unterwegs, mein Vater dagegen hat breite Ski mit Freeridebindung und abfahrtsorientierte Schuhe dabei. Und ich vertraue natürlich wieder auf Bergschuhe mit Kinderski...




Als derart bunt zusammengewürfelte Truppe kommen wir trotzdem schnell am Wandfuß an. Ski werden gegen Eisgeräte getauscht und schon wühlen wir uns jeder in seinem eigenen Tempo die Wand hinauf. Im Mittelteil sorgt ein kurzer, 65° steiler Blankeisaufschwung für ein bisschen Spannung, doch danach ist wieder Wühlen angesagt.



Der Ausstieg zum Gipfelgrat führt über verschneite Felsen. Zwar ist die Kletterei nicht wirklich schwierig, aber eben ziemlich fotogen. Also klettere ich voraus, finde einen Felsvorsprung und fange an zu Knipsen. Dieses Hindernis liegt schnell hinter uns und wir können wohlverdient Gipfelrast machen. Auch ein Verhauer bei der Abfahrt, der nochmal viel Zeit kostet, kann diesen Bergtag nicht mehr ruinieren. Eine weitere Spitzentour, die durch die Zustiegswaffe stark erleichtert wurde!






Mittwoch, 23. Dezember 2015

Pitztalklassiker

Nach dem traditionellen Skiausflug der Bergwacht am letzten Wochenende vor Weihnachten konnte ich irgendwie nicht genug bekommen. Das Wetter war gut, die Lawinenverhältnisse auch (ok, lag wohl daran dass es keinen Schnee gab...). Wie sich der Zufall ergab waren Lukas und Fabian gerade im Pitztal zum Skitouren gehen unterwegs. Kurzentschlossen packte ich also meinen Rucksack und fuhr von Ehrwald mit dem Bus nach Mittelberg ins hintere Pitztal. Dort kam ich im Dunkeln an und legte mich auch ziemlich bald schon neben dem großen Liftparkplatz in den Schlafsack. Da wird man ein bisschen schief angeschaut, aber geht schon.
Am nächsten Morgen treffe ich mich also mit den beiden und wir fahren mit der ersten Bahn zum Mittelbergjoch. Komplett allein auf dem Taschachferner machen wir uns auf den Weg zur Wildspitze. Für mich ist das ein besonderer Berg, hier habe ich meine erste Skitour gemacht, meine erste Nordwand geklettert und außerdem meine bisher schwierigste Solobegehung gemacht. Heute allerdings gehen wir nur gemütlich den landschaftlich eindrucksvollen Normalweg hinauf und kommen zügig am Skidepot an. Uns empfängt starker Föhnsturm. Fabian hat zum ersten Mal Steigeisen unter den Füßen, also gehen wir den Gipfelgrat nach einer kurzen Einweisung gemütlich an.

An der kurzen, aber ein bisschen heiklen Schlüsselstelle


Trotz der erschwerten Bedingungen kommt Fabian gut zurecht steigt sicher über die etwas kniffelige Schlüsselstelle. Uns umgibt mittlerweile eine dramatische Föhnwetterlage. Das ist zwar nicht schlimm fürs Klettern, aber es sorgt dafür dass ich aus dem Fotografieren gar nicht mehr herauskomme. Bei meinen letzten drei Gipfelerfolgen an diesem Berg hatte ich stets Kaiserwetter mit entsprechend bombastischer Aussicht, doch zum Fotografieren machen Sturm und Wolken eben ein bisschen mehr her...

Der Verbindungsgrat zum Nordgipfel wird bei dieser Wolkenstimmung mal eben als hochalpiner Laufsteg missbraucht


Am Gipfel machen wir deshalb ein ausgedehntes Fotoshooting und mit dem Sucher vor den Augen kommandiere ich die beiden eifrig auf dem fotogenen Verbindungsgrat zwischen Nord- und Südgipfel hin und her. Natürlich vergesse ich auch nicht mit dem Pickelstil den vierten Strich zu meiner Liste in den Gipfelfelsen zu ritzen.

Die Vorteile des Snowboards: Lukas zieht auch im windgepressten Harsch schöne Schwünge...

Die Nachteile des Snowboard: Lukas schiebt über ein Flachstück, dahinter die Wildspitze


Irgendwann machen wir uns an die Abfahrt, die wir drei recht speziell angehen. Fabian ist mit klassischen Tourenski und abfahrtsorientierten Schuhen unterwegs, Lukas setzt auf ein Splitboard während ich wieder mal mit kurzen Zustiegsski und Bergschuhen durch die Gegend taumle. Denn ich habe noch ein bisschen was vor: Unter dem Mittelbergjoch verabschiede ich mich von den beiden, die über das Skigebiet ins Tal fahren. Ich taste mich dagegen am Rand des leider viel zu spaltigen Taschachferners Richtung Taschachhaus vor, da ich am nächsten Tag durch die imposante Nordwand der Taschachwand klettern will.
Eigentlich hatte ich zum Taschachhaus großzügig zwei Stunden einkalkuliert, doch ich muss bald einsehen dass das wohl nichts wird. Die schwache Schneeauflage zwingt mich schnell auf die Moräne, auf der ich mich zu Fuß durch den teilweise tiefen Schnee wühlen muss. Nach einem kurzen Klettersteig folgt eine Querung der untersten Gletscherzunge, ein Gegenanstieg und die steile Querung der Moränenflanken am Pitztaler Urkund. Ski, Steigeisen und wieder mal zu Fuß. Der ständige Wechsel fordert seinen Tribut und so stehe ich erst vier Stunden später nach Einbruch der Dunkelheit am Taschachhaus, wo ich es mir im Winterraum gemütlich mache.
Immerhin habe ich die längste Nacht des Jahres vor mir und somit genug Zeit zur Erholung.

Beim langwierigen Abstieg zum Taschachhaus

Die Taschachwand. 600 Meter hoch, bis zu 60° steil und bedeckt mit grundlosem Pulverschnee

Am nächsten Morgen dann das selbe Spiel. Statt einer großzügigen Stunde brauche ich zum Einstieg der Wand zweieinhalb Stunden. Gut, hätte ich mir denken können. Ich habe ja auch keinen Zeitdruck, die tageszeitliche Erwärmung spielt im Dezember fast keine Rolle.
Ich packe also die Ski an den Rucksack und steige mit Steigeisen und Eisgeräten die sechshundert Meter hohe Taschachwand hinauf. Beziehungsweise wühle. Denn der gute Trittfirn hört nach gerade mal einhundert Höhenmetern schon wieder auf und weicht grundlosem Pulverschnee der das Klettern zur Hölle macht. Irgendwann komme ich aber auch so an der Headwall an, wo die Gletscherschmelze in den letzten Jahren aus der leichten Firnflanke ein 60° steiles Eisschild gezaubert hat. Ich schleiche mich am rechten Wandteil durch eine Eisrinne, die immerhin immer wieder gute Ausruhmöglichkeiten bietet, trotzdem brennen mir schnell die Waden.
Umso lauter fällt also der Gipfeljauchzer aus, als ich endlich auf dem Taschachhochjoch am Ende der Wand die Sonne sehe. Die Schwierigkeiten liegen größtenteils hinter mir, doch oben bin ich noch nicht. Erst muss ich noch den langen und tief verschneiten Verbindungsgrat zur Petersenspitze überwinden, was mich nochmal eine Stunde kostet.

Gipfelaussicht von der Petersenspitze zum Vorderen Brochkogel und zum Similaun

Auf der Petersenspitze folgt ein zweiter Gipfelschrei, bevor ich zügig die Steigeisen gegen die Zustiegsski tausche und mit einer Schussfahrt hinüber zum Wildspitze-Normalweg zische. Nach dem Gegenanstieg zum Mittelbergjoch folgt noch die lange, eigentlich gesperrte Talabfahrt nach Mittelberg. Gesperrt deswegen, weil dieser Winter seinem Namen leider kaum gerecht wird. Auf den letzten Schneeresten komme am Liftparkplatz an. Hier treffe wieder Fabian und Lukas, mit denen ich nach einem sehr langen Wochenende nach Hause fahre...

Dienstag, 29. September 2015

Weißseespitze Nordwand Solobegehung

Ende September. Das Wetter in den Alpen ist gut, ein Hochdruckgebiet hat sich festgesetzt und beschert jeden Tag blauen Himmel und Windstille. Klar, da muss ich eine Tour machen! So kurzentschlossen hat wieder mal keiner meiner Tourenpartner Zeit, also packe ich Eisgeräte und Zustiegsski ein und fahre allein ins Kaunertal. Nachdem ich die unzähligen Kehren der Kaunertaler Gletscherstraße hinter mich gebracht habe stehe ich auf 2700 Meter Höhe auf dem großen Parkplatz des Gletscherskigebiets.


Ich steige noch kurz auf einen kleinen Felsgipfel hinter dem Parkplatz, von dem aus ich einen hervorragenden Blick über das Tal habe. Und natürlich kann ich von hier aus auch mein Objekt der Begierde, die Nordwand der Weißseespitze, ausführlich studieren. Mit 3518 Metern ist sie der höchste Gipfel in der näheren Umgebung, wie eine eisige Trutzburg steht sie hoch über dem Parkplatz und den Liften.
Leider hat ihre Nordwand durch den Klimawandel so einiges an Substanz verloren. Vor wenigen Jahren noch galt das Eisschild als ideale Tour für Einsteiger, umso erschrockener bin ich jetzt beim Anblick des steilen, felsdurchsetzten Schutthaufens. Ohne erheblichen Felskontakt wird hier kein Durchkommen sein, auch braucht man eine ausgeklügelte Routenführung und entsprechendes Orientierungsvermögen beim Klettern. Na gut, ich hab ja nie gesagt dass ich es leicht haben möchte.
Nachdem ich zum Auto abgestiegen bin und mir noch Nudeln gekocht habe mache ich es mir auf dem Beifahrersitz bequem und schlafe auch bald zum Surren der Schneekanonen ein...


 Am Vorabend studiere ich gemütlich von einem Felskopf aus das morgige Tourenziel

 Detailfoto der Nordwand. In Schleifen steige ich über Bänder und Felsstufen durch die Wand

Am nächsten Morgen reißt mich der Wecker lange vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf. Am Horizont zeigt sich ein zarter schmaler Streifen Farbe, doch die Weißseespitze steht noch als schwarzer düsterer Klotz hoch über mir. Das schwierigste am Solobergsteigen ist das Aufbrechen. Mühsam quäle ich mich aus der Geborgenheit des Schlafsacks und steige in die kalten Bergschuhe. Kurz darauf laufe ich schon mit noch steifen Schritten über die Skipiste Richtung Wandfuß.
Mithilfe der Zustiegsski komme ich schnell voran, und schon nach einer halben Stunde überquere ich den ersten Bergschrund der Wand. Hier ist das Gelände noch nicht wirklich steil, und so zirkele ich in Spitzkehren über das untere Eisfeld. Beim zweiten Bergschrund am Übergang zum zweiten Eisfeld wird es zu steil, ich schnalle die kleinen Ski an den Rucksack und die Steigeisen an die Schuhe. Das zweite Eisfeld steilt von 45° am Anfang bis 50° am Ende auf, eigentlich nicht schwierig, doch unter einer dünnen Neuschneeschicht liegt hartes Gletschereis. Nach kurzer Zeit schon brennen mir die Waden, ich muss regelmäßig auf den Seitenzacken stehend Pause machen.
Doch auch das qualvolle zweite Eisfeld liegt irgendwann hinter mir und ich stehe am dritten und obersten Bergschrund. Hier beginnt das felsdurchsetzte schwierige Gelände. Zweifel plagen mich. Wie wird der Schnee sein? Wie fest ist der Fels? Kann ich eine Route durch das steile Labyrinth finden? Noch kann ich, wenn auch umständlich, umdrehen und absteigen. Bin ich erstmal im Felssteil, wird das schwierig.
Irgendwann gebe ich mir einen Ruck und klettere energisch über den Bergschrund. Ich muss hier einige Meter 70° steiles Eis überwinden, dann stehe ich entspannt am Fuß einer Schneerampe, die mich nach oben führt. Die ganze Wand ist tief mit Pulverschneeüberzogen, der das Vorankommen mühsam macht. Guter Trittfirn? Fehlanzeige. Dafür kann man sich im Pulverschnee wenigstens jederzeit problemlos ausruhen. Ich folge der Rampe so lange wie möglich, dann muss ich einige Steilstufen über brüchigen verschneiten Fels klettern. Vorsichtig die Spitzen der Eisgeräte in den stabilsten Rissen verklemmen, Steigeisen auf festgefrorene Kieselsteine stellen und Hochsteigen. So mogel ich mich Schritt für Schritt durch das heikle M3-Gelände. Nach zwei kurzen Schneebändern und weiteren Felsstufen stehe ich auf einem großen Band, auf dem ich die gesamte Wand queren muss. Der Schnee liegt hüfttief, doch ich komme gut voran. Jedes Zeitgefühl ist vergessen, ich werde eins mit der Bewegung. Irgendwann liegen auch die letzten Felsen hinter mir und ich muss nur noch auf dem Gipfeleisfeld über ein paar wadensprengende Blankeisstellen hechten, dann sehe ich die Sonne. Was für eine Wohltat! Die Wand legt sich zum weitläufigen Gipfelplateau zurück, dahinter tauchen Bernina, Ortler, Weißkugel und Dolomiten auf. Ich gehe noch zum Gipfelkreuz hinüber und gönne mir bei herrlichen Kaiserwetter eine ausgedehnte Gipfelrast.
Irgendwann mache ich mich an den Abstieg, der über den langen Westgrat führt und nochmals einige Kletterstellen sowie Gegenanstiege bereithält. Der Grat endet an der Bergstation der Skilifte. Hier nehme ich die Zustiegsski vom Rucksack, gespannt, wie die Abfahrt auf 135cm langen Kinderski und in Bergschuhen wird. Es ist mein erster Versuch mit diesem Setup, und so sehr ich beim Aufstieg begeistert war, so stark zweifel ich jetzt über die Abfahrtsperformance. Zurecht, nach einem Meter liege ich auf der Nase. In Bergschuhen kann man keinen Druck aufs Schienbein bringen, man kann den Ski lediglich über den Fußballen und vorsichtige Belastungsänderungen steuern. Ich falle noch ein paar mal hin, doch dann habe ich den Bogen raus: In schönen Kurzschwüngen wedele ich die noch geschlossene Skipiste hinunter, einen Jauchzer nach dem anderen ausstoßend. 

Gipfelaussicht zur Weißkugel hinüber. Auf diesem Gipfel stand ich ein halbes Jahr vorher mit Tourenski

Am nächsten Tag trage und schiebe ich noch mein Mountainbike tausend Höhenmeter in die hochalpine Riffelscharte hinauf. Auf dieser Tour erlebe ich nochmal einen schönen Sonnenaufgang über dem Kaunertal. Die Abfahrt dagegen ist weniger der Bringer. Die Leitfrage beim Bikebergsteigen "Alles fast fahrbar oder fast alles fahrbar" fällt hier leider stark Richtung "Alles fast fahrbar" aus...



Sonnenaufgang über dem Eispalast der Weißseespitze

Panorama von der Riffelscharte. Rechts im Bild sind Weißseespitze und Weißkugel zu sehen

"Fast alles fahrbar oder alles fast fahrbar?"


Anmerkung: Die Nordwand der Weißseespitze ist keine Anfängertour mehr! Wer hier einsteigt sollte eine gute Portion alpine Erfahrung mitbringen und sich im brüchigen Fels wohlfühlen. Auch reichen die Schwierigkeiten durch das Abschmelzen der unteren Gletscherstufe mittlerweile über eine Höhendifferenz von fast 500 Höhenmetern, sodass zusätzlich auch mehr Kondition gefragt ist als früher. Werden Schwierigkeiten gewachsen ist sollte die Wand baldmöglichst machen. Die Verhältnisse werden so schnell nicht besser, im Gegenteil, der Klimawandel wird uns nur noch mehr schöne Nordwände nehmen...

Dienstag, 1. September 2015

Bernina-Odyssee

Schweizer Berghütten sind ja bekanntlich recht teuer. Seilbahnen auch. Schüler und Studenten dagegen eher arm. So hatten Jan und ich recht schnell den Plan geschmiedet, einige Hochtouren in der Bernina „by fair means“ anzugehen. Das heißt, wir wollen vier Tage durch diese Gebirgsgruppe laufen und klettern, ohne auf eben jene teuren Hilfsmittel wie Hütten und Seilbahnen zurückzugreifen; also alle Höhenmeter aus eigener Kraft zurücklegen und dabei alles schleppen, was wir so brauchen.
Entsprechend schwer sind unsere Rucksäcke, als wir nach einer langen Autofahrt in der brütenden Hitze an der Talstation der Diavolezzaseilbahn loslaufen. Unser erstes und wichtigstes Ziel ist der berüchtigte Bumillerpfeiler am Piz Palü; das ist der mittlere und der schwierigste der drei charakteristischen Nordwandpfeiler dieses Berges. Für die anspruchsvolle Kletterei brauchen wir zusätzliche Sicherungsmittel, für den Fall des Falles sind auch zwei Trittleitern und Skyhooks dabei. Was die monströsen Rucksäcke noch schwerer macht.
Beim fast tausend Höhenmeter langen Zustieg zum geplanten Biwakplatz teilen wir weite Strecken des Weges mit den Gästen des Diavolezza-Berghotels – mit ihren kleinen leichten Hüttenrucksäcken. Dummerweise lassen wir uns so dazu verleiten, unsere „Konkurrenz“ zu überholen und kommen so viel zu schnell und viel zu erschöpft an der Furcola Trovat an, wo wir biwakieren wollen. Biwakplätze gibt es hier ja zuhauf, luxuriös mit gemauerten Wänden und fantastischer Aussicht – Nur leider hat sich der Cambrenagletscher mittlerweile so weit zurückgezogen, dass das Eis und damit auch die so wichtigen Schmelzwasserflüsse siebzig Meter tiefer liegen. Wir sind uns einig, zwei drei mal zum Wasser holen die bröseligen Moränenhänge hinunter- und wieder heraufkraxeln, darauf haben wir keine Lust. Also laufen, stolpern, und rutschen wir über den steilen Schotter hinunter und mauern uns auf dem schuttbedeckten Gletscherrand selber einen Biwakplatz. Ein bisschen kälter, weniger Aussicht, aber dafür fließend Wasser...

Piz Palü (links) und Piz Bernina

Durch die Schmelzwasserflüsse haben wir sogar fliessend Wasser am Biwakplatz...

Immerhin, auch von hier aus sieht man unser ursprüngliches Ziel, den mächtigen Bumillerpfeiler. Allerdings sehen wir auch den vielen frischen Neuschnee, der den steilen Fels eingekleistert hat. Unter diesen Voraussetzungen sind wir dann doch einsichtig und disponieren kurzerhand um auf den ebenso schönen, aber etwas leichteren Östlichen Nordwandpfeiler. Eine offenbar glückliche Entscheidung, wie wir am nächsten Abend sehen sollten.

Die Nacht ist kurz und ein bisschen kühl, zumindest für mich, denn ich habe nur einen leichten Sommerschlafsack dabei. Der wärmt etwa so gut wie ein nasses T-shirt, während Jan neben mir im warmen Daunenschlafsack schon längst friedlich schlummert.

Naja, wir sind ja zum Bergsteigen hergekommen, und nicht zum schlafen. Ich bin dementsprechend wenig traurig, als am Morgen endlich der Wecker klingelt. Gähnen, Kaffee kochen, Müsliriegel reinstopfen und los geht’s. Die Karawane der vielen Hüttengäste kommt auch gerade auf dem Gletscher eingetrudelt, also hetzten wir uns gleich zu Beginn schon wieder viel zu sehr ab. Immerhin wollen wir im engen Cambrenaeisbruch nicht Schlange stehen. Mit 190er Puls ziehen wir an einer Seilschaft nach der anderen vorbei und sind so schon kurz nach dem Eisbruch im vorderen Bereich. Allerdings bin ich auch schon völlig fertig; ich spüre die Höhe und den zu schnellen Aufstieg, obwohl wir gerade mal an der Abzweigung zur eigentlichen Tour sind...

Über der Randkluft wartet steile und griffarme Plattenkletterei

Traumhafter Granit am Grat. Direkt über Jans Kopf ist schon klein der Felsturm zu sehen, der die Schlüsselstelle markiert

An der Randkluft stehen wir schon vor dem ersten Hindernis, wir stehen vor einer glatten, senkrechten Granitplatte, griffarm, sandbedeckt und kaum abzusichern.Vor ein paar Jahren konnte man wohl noch auf dem Gletscher direkt auf das darüber gelegene Felsband steigen. Angesichts meines Zustandes lasse ich Jan vorsteigen, der die steile Platte mühelos meistert. Da habe ich selbst im Nachstieg noch mehr zu kämpfen. Auf dem Felsband darüber, Jan steigt bereits am langen Seil weiter, sehe ich unter einem Felsblock ein ausgeblichenes Stück Bandschlinge hervorschauen. Es entpuppt sich als uralter Friend, der wettergegerbt, voller Kratzspuren und arg verbogen ist. Was er wohl für eine Geschichte erzählen könnte? Ist das einfach ein Fixer Friend, den Steinschlag so zugerichtet hat? Oder wurde er durch einen Sturz aus der Wand gerissen? Womöglich mitsamt dem Kletterer? Schnell klippe ich das Fundstück hinten an den Rucksack und folge dem energischen Seilzug nach oben.
An der Gratkante hat Jan Stand gebaut, vor uns tummeln sich einige Seilschaften. Überholen wird kaum klappen, also lassen wir es („endlich“) auch ein bisschen gemütlicher angehen und Klettern ebenfalls von Stand zu Stand. Jan fühlt sich wohl etwas ausgebremst, doch mir kommt diese Erholung gerade recht.
Über wunderbare Kletterstellen im besten Granit geht es wie auf einer Himmelsleiter immer höher. Nie wirklich schwer, aber auch nur wenig Gehgelände. Bergsteigen aus einer anderen Welt.
Kurzes leichtes Gehgelände über dem Labyrinth des Cambrena-Eisbruchs...

Immer wieder sorgen kurze steile Aufschwünge für Abwechslung

Irgendwann kommen wir zur steilen Schlüsselstelle, einem hohen, überhängenden Gratturm aus fantastischen rotgoldenem Toastbrotfels mit einer griffarmen Granitplatte. Ohne Risse für Friends oder Keile, die einzige Sicherung ist ein uralter, wackelnder 1-mm-Messerhaken, an dem eine fransige Trittschlinge baumelt. Meine innere Schwierigkeitsmessung pendelt (angesichts meines Zustands) irgendwo zwischen „What the fuck?!“ und „Holy shit!“. Zum Glück sieht Jan das anders und steigt wieder vor. In der Tourenbeschreibung stand ja auch nur etwas von IV-...
Doch auch Jan als starker Sportkletterer muss nach einem kurzen wackeligen Freikletterversuch beherzt in die Schlinge greifen und treten, akustisch untermalt von Ausdrücken der Verwunderung. Im Nachstieg hänge ich zwei mal im Seil. Wir bewerten die Stelle mit mindestens VI/VI+.

Das aussichtsreiche Finale hoch über dem Persgletscher


Danach geht es allerdings wieder entspannter weiter, nach einigen langen Seillängen voller interessanter Kletterstellen verschwinden die Felsen unter der scharfen Schneide des firnigen Gipfelgrates. Die Gipfelwächte scheint zum Greifen nah, doch uns trennen immer noch gut einhundert Höhenmeter vom Ausstieg. Mich hat die Höhe mittlerweile wieder voll im Griff, mehr als fünf Schritte am Stück sind nicht drin. Ich lasse Jan vorgehen, und wenig später können wir uns dann am Gipfel die Hände schütteln. Und Brotzeit machen und Bier trinken.
Der schmale Firngrat am Beginn des Abstiegs

Aussichtsreicher Balanceakt
Da der Plan für die nächsten zwei Tage noch nicht feststeht warten wir nicht allzu lange mit dem Abstieg und rennen zügig über die weichen Hänge nach unten. So sind wir schon wenig später wieder am Biwakplatz und können uns beratschlagen. Jan möchte gerne den Biancograt am Piz Bernina machen, sicher DIE Tour schlechthin in der Gegend. Allerdings würde das bedeuten, dass wir heute noch ins Morteratschtal absteigen müssen, morgen dann eine 1500-Höhenmeter-Verbindungsetappe vor uns haben und danach noch die nicht leichte Tour mit ihrem langen, komplizierten Abstieg. Ich habe die Tour schon zwei Jahre zuvor gemacht, außerdem bin ich völlig platt und habe wenig Lust auf einen Abstieg über den Persgletscher Richtung Bowalhütte. Viel lieber würde ich hier bleiben, morgen gemütlich die Eisnase am Piz Cambrena klettern und damit dann abschließen. Insgeheim hoffe ich also auf einen schlechten Wetterbericht, aber nein, der Blich aufs Smartphone zeigt Kaiserwetter für morgen und eine aufziehende Kaltfront übermorgen Abend, wenn wir schon im Tal sind. Also gut, Rucksack aufsetzen und den Cambrenagletscher zum Persgletscher und weiter zum Morteratschgletscher absteigen.
Unzählige Gletscherspalten und Schotterhänge später sitzen wir endlich auf einem Grasbuckel in der Nähe der Bowalhütte. Jetzt, nach Abendessen und Sonnenuntergang können wir sehen, dass wir mit dem Verzicht auf den Bumillerpfeiler richtig entschieden haben: Ein Helikopter fliegt auf der anderen Talseite gerade eine Seilschaft aus der Route. Sie sind kaum bis zur Hälfte der Kletterei gekommen.


Nach der erholsamen Nacht folgt die lange und anstrengende Verbindungsetappe hinauf in die Furcola Bowal, der Abstieg ins Val Roseg zur Tschiervahütte und schließlich wieder der mühsame Aufstieg zur Furcola Prievlusa auf fast 3500 Meter Höhe.
Pompöser Sonnenaufgang über dem Festsaal der Alpen



Beim Abstieg ins Val Roseg bieten sich eindrucksvolle Blicke in die pralle Nordwand des Piz Roseg



Wir kommen zügig voran und sind schon kurz nach Mittag an diesem schönen Biwakplatz, sodass wir noch ein bisschen Sonne tanken und nasse Klamotten trocknen können. Die Nacht wird wieder kälter, ich zittere mich im dünnen Schlafsack immer wieder aus dem Schlaf. Am Morgen empfangen uns Wind und Nebelfetzen, die immer wieder über die Scharte geweht werden. Im Westen zeichnet sich am Horizont unter dem Mondlicht ein Wolkenband ab. Ist die angekündigte Kaltfront zu früh dran? Wann ist der Sturm hier? Naja, ich kenne ja die Route, also sollten wir mit ein bisschen Nebel ja kein Problem kriegen. Glaube ich zumindest...

Am Beginn des Firngrates

Zwei Stunden später stehen wir nach unzähligen Verhauern und Sackgassen endlich am Beginn des Firngrates. Meine Moral ist völlig im Eimer, die Höhenkrankheit ist auch zurück. Noch aber ist die Luft klar, und uns bietet sich das spektakuläre Schauspiel eines fantastischen Sonnenaufgangs über dem Engadin.

Ein farbenfroher Sonnenaufgang ohne Wolken verheißt meistens schlechtes Wetter - die rötliche Färbung kommt von der erhöhten Luftfeuchtigkeit


Am Grat weht mittlerweile starker böiger Sturmwind, was den leichten Firngrat zu einem hochalpinen Eiertanz macht. Nicht wenige Bergsteiger sind schon von ähnlichen Graten in den Tod geweht worden.
Wenige Minuten bevor der Sturm uns verschluckt bietet sich noch einmal ein schöner Tiefblick

Das Wolkenband wabert jetzt schon über den Malojapass, und wenig später sind auch wir verschluckt. Die Sonne verschwindet hinter diffusen Weiß, Raureif überzieht unsere Klamotten und Gesichter. Na Super. Immerhin schneit es nicht, und so kommen wir einigermaßen zufrieden am Gipfel an. Ohne Handschlag geht es hier weiter, wir beeilen uns den ausgesetzten Abstieg zur Marco e Rosa Hütte schnell hinter uns zu bringen. Nach einigen schwindelerregenden Balanceakten und mehrmaligen Abseilen kommen wir an der Hütte vorbei, doch eine Pause gönnen wir uns immer noch nicht. Zu groß die Angst, dass wir auf den weiten Gletscherflächen zur Bellavistaterasse die Orientierung verlieren könnten. Wir kommen bald in einen Geschwindigkeitsrausch, alle Energiereserven werden mobilisiert. Über die Gletscherzunge des Morteratschgletschers und das Val Morteratsch hinaus rennen wir regelrecht. Und tatsächlich, gleichzeitig mit dem ersten Regentropfen kommen wir am Bahnhof an.


Wir haben nicht einmal zehn Stunden gebraucht für die Tour, für die ich zwei Jahre zuvor noch sechzehn Stunden brauchte...