Schweizer Berghütten sind ja
bekanntlich recht teuer. Seilbahnen auch. Schüler und Studenten
dagegen eher arm. So hatten Jan und ich recht schnell den Plan
geschmiedet, einige Hochtouren in der Bernina „by fair means“
anzugehen. Das heißt, wir wollen vier Tage durch diese Gebirgsgruppe
laufen und klettern, ohne auf eben jene teuren Hilfsmittel wie Hütten
und Seilbahnen zurückzugreifen; also alle Höhenmeter aus eigener
Kraft zurücklegen und dabei alles schleppen, was wir so brauchen.
Entsprechend schwer sind unsere
Rucksäcke, als wir nach einer langen Autofahrt in der brütenden
Hitze an der Talstation der Diavolezzaseilbahn loslaufen. Unser
erstes und wichtigstes Ziel ist der berüchtigte Bumillerpfeiler am
Piz Palü; das ist der mittlere und der schwierigste der drei
charakteristischen Nordwandpfeiler dieses Berges. Für die
anspruchsvolle Kletterei brauchen wir zusätzliche Sicherungsmittel,
für den Fall des Falles sind auch zwei Trittleitern und Skyhooks
dabei. Was die monströsen Rucksäcke noch schwerer macht.
Beim fast tausend Höhenmeter langen
Zustieg zum geplanten Biwakplatz teilen wir weite Strecken des Weges
mit den Gästen des Diavolezza-Berghotels – mit ihren kleinen
leichten Hüttenrucksäcken. Dummerweise lassen wir uns so dazu
verleiten, unsere „Konkurrenz“ zu überholen und kommen so viel
zu schnell und viel zu erschöpft an der Furcola Trovat an, wo wir
biwakieren wollen. Biwakplätze gibt es hier ja zuhauf, luxuriös mit
gemauerten Wänden und fantastischer Aussicht – Nur leider hat sich
der Cambrenagletscher mittlerweile so weit zurückgezogen, dass das
Eis und damit auch die so wichtigen Schmelzwasserflüsse siebzig
Meter tiefer liegen. Wir sind uns einig, zwei drei mal zum Wasser
holen die bröseligen Moränenhänge hinunter- und wieder
heraufkraxeln, darauf haben wir keine Lust. Also laufen, stolpern,
und rutschen wir über den steilen Schotter hinunter und mauern uns
auf dem schuttbedeckten Gletscherrand selber einen Biwakplatz. Ein
bisschen kälter, weniger Aussicht, aber dafür fließend Wasser...
Piz Palü (links) und Piz Bernina
Durch die Schmelzwasserflüsse haben wir sogar fliessend Wasser am Biwakplatz...
Immerhin, auch von hier aus sieht man
unser ursprüngliches Ziel, den mächtigen Bumillerpfeiler.
Allerdings sehen wir auch den vielen frischen Neuschnee, der den
steilen Fels eingekleistert hat. Unter diesen Voraussetzungen sind
wir dann doch einsichtig und disponieren kurzerhand um auf den ebenso
schönen, aber etwas leichteren Östlichen Nordwandpfeiler. Eine
offenbar glückliche Entscheidung, wie wir am nächsten Abend sehen
sollten.
Die Nacht ist kurz und ein bisschen
kühl, zumindest für mich, denn ich habe nur einen leichten
Sommerschlafsack dabei. Der wärmt etwa so gut wie ein nasses
T-shirt, während Jan neben mir im warmen Daunenschlafsack schon
längst friedlich schlummert.
Naja, wir sind ja zum Bergsteigen
hergekommen, und nicht zum schlafen. Ich bin dementsprechend wenig
traurig, als am Morgen endlich der Wecker klingelt. Gähnen, Kaffee
kochen, Müsliriegel reinstopfen und los geht’s. Die Karawane der
vielen Hüttengäste kommt auch gerade auf dem Gletscher
eingetrudelt, also hetzten wir uns gleich zu Beginn schon wieder viel
zu sehr ab. Immerhin wollen wir im engen Cambrenaeisbruch nicht
Schlange stehen. Mit 190er Puls ziehen wir an einer Seilschaft nach
der anderen vorbei und sind so schon kurz nach dem Eisbruch im
vorderen Bereich. Allerdings bin ich auch schon völlig fertig; ich
spüre die Höhe und den zu schnellen Aufstieg, obwohl wir gerade mal
an der Abzweigung zur eigentlichen Tour sind...
Über der Randkluft wartet steile und griffarme Plattenkletterei
Traumhafter Granit am Grat. Direkt über Jans Kopf ist schon klein der Felsturm zu sehen, der die Schlüsselstelle markiert
An der Randkluft stehen wir schon vor
dem ersten Hindernis, wir stehen vor einer glatten, senkrechten
Granitplatte, griffarm, sandbedeckt und kaum abzusichern.Vor ein paar
Jahren konnte man wohl noch auf dem Gletscher direkt auf das darüber
gelegene Felsband steigen. Angesichts meines Zustandes lasse ich Jan
vorsteigen, der die steile Platte mühelos meistert. Da habe ich
selbst im Nachstieg noch mehr zu kämpfen. Auf dem Felsband darüber,
Jan steigt bereits am langen Seil weiter, sehe ich unter einem
Felsblock ein ausgeblichenes Stück Bandschlinge hervorschauen. Es
entpuppt sich als uralter Friend, der wettergegerbt, voller
Kratzspuren und arg verbogen ist. Was er wohl für eine Geschichte
erzählen könnte? Ist das einfach ein Fixer Friend, den Steinschlag
so zugerichtet hat? Oder wurde er durch einen Sturz aus der Wand
gerissen? Womöglich mitsamt dem Kletterer? Schnell klippe ich das
Fundstück hinten an den Rucksack und folge dem energischen Seilzug
nach oben.
An der Gratkante hat Jan Stand gebaut,
vor uns tummeln sich einige Seilschaften. Überholen wird kaum
klappen, also lassen wir es („endlich“) auch ein bisschen
gemütlicher angehen und Klettern ebenfalls von Stand zu Stand. Jan
fühlt sich wohl etwas ausgebremst, doch mir kommt diese Erholung
gerade recht.
Über wunderbare Kletterstellen im
besten Granit geht es wie auf einer Himmelsleiter immer höher. Nie
wirklich schwer, aber auch nur wenig Gehgelände. Bergsteigen aus
einer anderen Welt.
Kurzes leichtes Gehgelände über dem Labyrinth des Cambrena-Eisbruchs...
Immer wieder sorgen kurze steile Aufschwünge für Abwechslung
Irgendwann kommen wir zur steilen
Schlüsselstelle, einem hohen, überhängenden Gratturm aus
fantastischen rotgoldenem Toastbrotfels mit einer griffarmen
Granitplatte. Ohne Risse für Friends oder Keile, die einzige
Sicherung ist ein uralter, wackelnder 1-mm-Messerhaken, an dem eine
fransige Trittschlinge baumelt. Meine innere Schwierigkeitsmessung
pendelt (angesichts meines Zustands) irgendwo zwischen „What the
fuck?!“ und „Holy shit!“. Zum Glück sieht Jan das anders und
steigt wieder vor. In der Tourenbeschreibung stand ja auch nur etwas
von IV-...
Doch auch Jan als starker
Sportkletterer muss nach einem kurzen wackeligen Freikletterversuch
beherzt in die Schlinge greifen und treten, akustisch untermalt von
Ausdrücken der Verwunderung. Im Nachstieg hänge ich zwei mal im
Seil. Wir bewerten die Stelle mit mindestens VI/VI+.
Das aussichtsreiche Finale hoch über dem Persgletscher
Danach geht es allerdings wieder
entspannter weiter, nach einigen langen Seillängen voller
interessanter Kletterstellen verschwinden die Felsen unter der
scharfen Schneide des firnigen Gipfelgrates. Die Gipfelwächte
scheint zum Greifen nah, doch uns trennen immer noch gut einhundert
Höhenmeter vom Ausstieg. Mich hat die Höhe mittlerweile wieder voll
im Griff, mehr als fünf Schritte am Stück sind nicht drin. Ich
lasse Jan vorgehen, und wenig später können wir uns dann am Gipfel
die Hände schütteln. Und Brotzeit machen und Bier trinken.
Der schmale Firngrat am Beginn des Abstiegs
Aussichtsreicher Balanceakt
Da der Plan für die nächsten zwei
Tage noch nicht feststeht warten wir nicht allzu lange mit dem
Abstieg und rennen zügig über die weichen Hänge nach unten. So
sind wir schon wenig später wieder am Biwakplatz und können uns
beratschlagen. Jan möchte gerne den Biancograt am Piz Bernina
machen, sicher DIE Tour schlechthin in der Gegend. Allerdings würde
das bedeuten, dass wir heute noch ins Morteratschtal absteigen
müssen, morgen dann eine 1500-Höhenmeter-Verbindungsetappe vor uns
haben und danach noch die nicht leichte Tour mit ihrem langen,
komplizierten Abstieg. Ich habe die Tour schon zwei Jahre zuvor
gemacht, außerdem bin ich völlig platt und habe wenig Lust auf
einen Abstieg über den Persgletscher Richtung Bowalhütte. Viel
lieber würde ich hier bleiben, morgen gemütlich die Eisnase am Piz
Cambrena klettern und damit dann abschließen. Insgeheim hoffe ich
also auf einen schlechten Wetterbericht, aber nein, der Blich aufs
Smartphone zeigt Kaiserwetter für morgen und eine aufziehende
Kaltfront übermorgen Abend, wenn wir schon im Tal sind. Also gut,
Rucksack aufsetzen und den Cambrenagletscher zum Persgletscher und
weiter zum Morteratschgletscher absteigen.
Unzählige Gletscherspalten und
Schotterhänge später sitzen wir endlich auf einem Grasbuckel in der
Nähe der Bowalhütte. Jetzt, nach Abendessen und Sonnenuntergang
können wir sehen, dass wir mit dem Verzicht auf den Bumillerpfeiler
richtig entschieden haben: Ein Helikopter fliegt auf der anderen
Talseite gerade eine Seilschaft aus der Route. Sie sind
kaum bis zur Hälfte der Kletterei gekommen.
Nach der erholsamen Nacht folgt die
lange und anstrengende Verbindungsetappe hinauf in die Furcola Bowal,
der Abstieg ins Val Roseg zur Tschiervahütte und schließlich wieder
der mühsame Aufstieg zur Furcola Prievlusa auf fast 3500 Meter Höhe.
Pompöser Sonnenaufgang über dem Festsaal der Alpen
Beim Abstieg ins Val Roseg bieten sich eindrucksvolle Blicke in die pralle Nordwand des Piz Roseg
Wir kommen zügig voran und sind schon
kurz nach Mittag an diesem schönen Biwakplatz, sodass wir noch ein
bisschen Sonne tanken und nasse Klamotten trocknen können. Die Nacht
wird wieder kälter, ich zittere mich im dünnen Schlafsack immer
wieder aus dem Schlaf. Am Morgen empfangen uns Wind und Nebelfetzen,
die immer wieder über die Scharte geweht werden. Im Westen zeichnet
sich am Horizont unter dem Mondlicht ein Wolkenband ab. Ist die
angekündigte Kaltfront zu früh dran? Wann ist der Sturm hier? Naja,
ich kenne ja die Route, also sollten wir mit ein bisschen Nebel ja
kein Problem kriegen. Glaube ich zumindest...
Am Beginn des Firngrates
Zwei Stunden später stehen wir nach
unzähligen Verhauern und Sackgassen endlich am Beginn des
Firngrates. Meine Moral ist völlig im Eimer, die Höhenkrankheit ist
auch zurück. Noch aber ist die Luft klar, und uns bietet sich das
spektakuläre Schauspiel eines fantastischen Sonnenaufgangs über dem
Engadin.
Ein farbenfroher Sonnenaufgang ohne Wolken verheißt meistens schlechtes Wetter - die rötliche Färbung kommt von der erhöhten Luftfeuchtigkeit
Am Grat weht mittlerweile starker
böiger Sturmwind, was den leichten Firngrat zu einem hochalpinen
Eiertanz macht. Nicht wenige Bergsteiger sind schon von ähnlichen
Graten in den Tod geweht worden.
Wenige Minuten bevor der Sturm uns verschluckt bietet sich noch einmal ein schöner Tiefblick
Das Wolkenband wabert jetzt schon über den Malojapass, und wenig später sind auch wir
verschluckt. Die Sonne verschwindet hinter diffusen Weiß, Raureif
überzieht unsere Klamotten und Gesichter. Na Super. Immerhin schneit
es nicht, und so kommen wir einigermaßen zufrieden am Gipfel an.
Ohne Handschlag geht es hier weiter, wir beeilen uns den ausgesetzten
Abstieg zur Marco e Rosa Hütte schnell hinter uns zu bringen. Nach
einigen schwindelerregenden Balanceakten und mehrmaligen Abseilen
kommen wir an der Hütte vorbei, doch eine Pause gönnen wir uns
immer noch nicht. Zu groß die Angst, dass wir auf den weiten
Gletscherflächen zur Bellavistaterasse die Orientierung verlieren
könnten. Wir kommen bald in einen Geschwindigkeitsrausch, alle
Energiereserven werden mobilisiert. Über die Gletscherzunge des
Morteratschgletschers und das Val Morteratsch hinaus rennen wir
regelrecht. Und tatsächlich, gleichzeitig mit dem ersten
Regentropfen kommen wir am Bahnhof an.
Wir haben nicht einmal zehn Stunden
gebraucht für die Tour, für die ich zwei Jahre zuvor noch sechzehn
Stunden brauchte...
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