Dienstag, 1. September 2015

Bernina-Odyssee

Schweizer Berghütten sind ja bekanntlich recht teuer. Seilbahnen auch. Schüler und Studenten dagegen eher arm. So hatten Jan und ich recht schnell den Plan geschmiedet, einige Hochtouren in der Bernina „by fair means“ anzugehen. Das heißt, wir wollen vier Tage durch diese Gebirgsgruppe laufen und klettern, ohne auf eben jene teuren Hilfsmittel wie Hütten und Seilbahnen zurückzugreifen; also alle Höhenmeter aus eigener Kraft zurücklegen und dabei alles schleppen, was wir so brauchen.
Entsprechend schwer sind unsere Rucksäcke, als wir nach einer langen Autofahrt in der brütenden Hitze an der Talstation der Diavolezzaseilbahn loslaufen. Unser erstes und wichtigstes Ziel ist der berüchtigte Bumillerpfeiler am Piz Palü; das ist der mittlere und der schwierigste der drei charakteristischen Nordwandpfeiler dieses Berges. Für die anspruchsvolle Kletterei brauchen wir zusätzliche Sicherungsmittel, für den Fall des Falles sind auch zwei Trittleitern und Skyhooks dabei. Was die monströsen Rucksäcke noch schwerer macht.
Beim fast tausend Höhenmeter langen Zustieg zum geplanten Biwakplatz teilen wir weite Strecken des Weges mit den Gästen des Diavolezza-Berghotels – mit ihren kleinen leichten Hüttenrucksäcken. Dummerweise lassen wir uns so dazu verleiten, unsere „Konkurrenz“ zu überholen und kommen so viel zu schnell und viel zu erschöpft an der Furcola Trovat an, wo wir biwakieren wollen. Biwakplätze gibt es hier ja zuhauf, luxuriös mit gemauerten Wänden und fantastischer Aussicht – Nur leider hat sich der Cambrenagletscher mittlerweile so weit zurückgezogen, dass das Eis und damit auch die so wichtigen Schmelzwasserflüsse siebzig Meter tiefer liegen. Wir sind uns einig, zwei drei mal zum Wasser holen die bröseligen Moränenhänge hinunter- und wieder heraufkraxeln, darauf haben wir keine Lust. Also laufen, stolpern, und rutschen wir über den steilen Schotter hinunter und mauern uns auf dem schuttbedeckten Gletscherrand selber einen Biwakplatz. Ein bisschen kälter, weniger Aussicht, aber dafür fließend Wasser...

Piz Palü (links) und Piz Bernina

Durch die Schmelzwasserflüsse haben wir sogar fliessend Wasser am Biwakplatz...

Immerhin, auch von hier aus sieht man unser ursprüngliches Ziel, den mächtigen Bumillerpfeiler. Allerdings sehen wir auch den vielen frischen Neuschnee, der den steilen Fels eingekleistert hat. Unter diesen Voraussetzungen sind wir dann doch einsichtig und disponieren kurzerhand um auf den ebenso schönen, aber etwas leichteren Östlichen Nordwandpfeiler. Eine offenbar glückliche Entscheidung, wie wir am nächsten Abend sehen sollten.

Die Nacht ist kurz und ein bisschen kühl, zumindest für mich, denn ich habe nur einen leichten Sommerschlafsack dabei. Der wärmt etwa so gut wie ein nasses T-shirt, während Jan neben mir im warmen Daunenschlafsack schon längst friedlich schlummert.

Naja, wir sind ja zum Bergsteigen hergekommen, und nicht zum schlafen. Ich bin dementsprechend wenig traurig, als am Morgen endlich der Wecker klingelt. Gähnen, Kaffee kochen, Müsliriegel reinstopfen und los geht’s. Die Karawane der vielen Hüttengäste kommt auch gerade auf dem Gletscher eingetrudelt, also hetzten wir uns gleich zu Beginn schon wieder viel zu sehr ab. Immerhin wollen wir im engen Cambrenaeisbruch nicht Schlange stehen. Mit 190er Puls ziehen wir an einer Seilschaft nach der anderen vorbei und sind so schon kurz nach dem Eisbruch im vorderen Bereich. Allerdings bin ich auch schon völlig fertig; ich spüre die Höhe und den zu schnellen Aufstieg, obwohl wir gerade mal an der Abzweigung zur eigentlichen Tour sind...

Über der Randkluft wartet steile und griffarme Plattenkletterei

Traumhafter Granit am Grat. Direkt über Jans Kopf ist schon klein der Felsturm zu sehen, der die Schlüsselstelle markiert

An der Randkluft stehen wir schon vor dem ersten Hindernis, wir stehen vor einer glatten, senkrechten Granitplatte, griffarm, sandbedeckt und kaum abzusichern.Vor ein paar Jahren konnte man wohl noch auf dem Gletscher direkt auf das darüber gelegene Felsband steigen. Angesichts meines Zustandes lasse ich Jan vorsteigen, der die steile Platte mühelos meistert. Da habe ich selbst im Nachstieg noch mehr zu kämpfen. Auf dem Felsband darüber, Jan steigt bereits am langen Seil weiter, sehe ich unter einem Felsblock ein ausgeblichenes Stück Bandschlinge hervorschauen. Es entpuppt sich als uralter Friend, der wettergegerbt, voller Kratzspuren und arg verbogen ist. Was er wohl für eine Geschichte erzählen könnte? Ist das einfach ein Fixer Friend, den Steinschlag so zugerichtet hat? Oder wurde er durch einen Sturz aus der Wand gerissen? Womöglich mitsamt dem Kletterer? Schnell klippe ich das Fundstück hinten an den Rucksack und folge dem energischen Seilzug nach oben.
An der Gratkante hat Jan Stand gebaut, vor uns tummeln sich einige Seilschaften. Überholen wird kaum klappen, also lassen wir es („endlich“) auch ein bisschen gemütlicher angehen und Klettern ebenfalls von Stand zu Stand. Jan fühlt sich wohl etwas ausgebremst, doch mir kommt diese Erholung gerade recht.
Über wunderbare Kletterstellen im besten Granit geht es wie auf einer Himmelsleiter immer höher. Nie wirklich schwer, aber auch nur wenig Gehgelände. Bergsteigen aus einer anderen Welt.
Kurzes leichtes Gehgelände über dem Labyrinth des Cambrena-Eisbruchs...

Immer wieder sorgen kurze steile Aufschwünge für Abwechslung

Irgendwann kommen wir zur steilen Schlüsselstelle, einem hohen, überhängenden Gratturm aus fantastischen rotgoldenem Toastbrotfels mit einer griffarmen Granitplatte. Ohne Risse für Friends oder Keile, die einzige Sicherung ist ein uralter, wackelnder 1-mm-Messerhaken, an dem eine fransige Trittschlinge baumelt. Meine innere Schwierigkeitsmessung pendelt (angesichts meines Zustands) irgendwo zwischen „What the fuck?!“ und „Holy shit!“. Zum Glück sieht Jan das anders und steigt wieder vor. In der Tourenbeschreibung stand ja auch nur etwas von IV-...
Doch auch Jan als starker Sportkletterer muss nach einem kurzen wackeligen Freikletterversuch beherzt in die Schlinge greifen und treten, akustisch untermalt von Ausdrücken der Verwunderung. Im Nachstieg hänge ich zwei mal im Seil. Wir bewerten die Stelle mit mindestens VI/VI+.

Das aussichtsreiche Finale hoch über dem Persgletscher


Danach geht es allerdings wieder entspannter weiter, nach einigen langen Seillängen voller interessanter Kletterstellen verschwinden die Felsen unter der scharfen Schneide des firnigen Gipfelgrates. Die Gipfelwächte scheint zum Greifen nah, doch uns trennen immer noch gut einhundert Höhenmeter vom Ausstieg. Mich hat die Höhe mittlerweile wieder voll im Griff, mehr als fünf Schritte am Stück sind nicht drin. Ich lasse Jan vorgehen, und wenig später können wir uns dann am Gipfel die Hände schütteln. Und Brotzeit machen und Bier trinken.
Der schmale Firngrat am Beginn des Abstiegs

Aussichtsreicher Balanceakt
Da der Plan für die nächsten zwei Tage noch nicht feststeht warten wir nicht allzu lange mit dem Abstieg und rennen zügig über die weichen Hänge nach unten. So sind wir schon wenig später wieder am Biwakplatz und können uns beratschlagen. Jan möchte gerne den Biancograt am Piz Bernina machen, sicher DIE Tour schlechthin in der Gegend. Allerdings würde das bedeuten, dass wir heute noch ins Morteratschtal absteigen müssen, morgen dann eine 1500-Höhenmeter-Verbindungsetappe vor uns haben und danach noch die nicht leichte Tour mit ihrem langen, komplizierten Abstieg. Ich habe die Tour schon zwei Jahre zuvor gemacht, außerdem bin ich völlig platt und habe wenig Lust auf einen Abstieg über den Persgletscher Richtung Bowalhütte. Viel lieber würde ich hier bleiben, morgen gemütlich die Eisnase am Piz Cambrena klettern und damit dann abschließen. Insgeheim hoffe ich also auf einen schlechten Wetterbericht, aber nein, der Blich aufs Smartphone zeigt Kaiserwetter für morgen und eine aufziehende Kaltfront übermorgen Abend, wenn wir schon im Tal sind. Also gut, Rucksack aufsetzen und den Cambrenagletscher zum Persgletscher und weiter zum Morteratschgletscher absteigen.
Unzählige Gletscherspalten und Schotterhänge später sitzen wir endlich auf einem Grasbuckel in der Nähe der Bowalhütte. Jetzt, nach Abendessen und Sonnenuntergang können wir sehen, dass wir mit dem Verzicht auf den Bumillerpfeiler richtig entschieden haben: Ein Helikopter fliegt auf der anderen Talseite gerade eine Seilschaft aus der Route. Sie sind kaum bis zur Hälfte der Kletterei gekommen.


Nach der erholsamen Nacht folgt die lange und anstrengende Verbindungsetappe hinauf in die Furcola Bowal, der Abstieg ins Val Roseg zur Tschiervahütte und schließlich wieder der mühsame Aufstieg zur Furcola Prievlusa auf fast 3500 Meter Höhe.
Pompöser Sonnenaufgang über dem Festsaal der Alpen



Beim Abstieg ins Val Roseg bieten sich eindrucksvolle Blicke in die pralle Nordwand des Piz Roseg



Wir kommen zügig voran und sind schon kurz nach Mittag an diesem schönen Biwakplatz, sodass wir noch ein bisschen Sonne tanken und nasse Klamotten trocknen können. Die Nacht wird wieder kälter, ich zittere mich im dünnen Schlafsack immer wieder aus dem Schlaf. Am Morgen empfangen uns Wind und Nebelfetzen, die immer wieder über die Scharte geweht werden. Im Westen zeichnet sich am Horizont unter dem Mondlicht ein Wolkenband ab. Ist die angekündigte Kaltfront zu früh dran? Wann ist der Sturm hier? Naja, ich kenne ja die Route, also sollten wir mit ein bisschen Nebel ja kein Problem kriegen. Glaube ich zumindest...

Am Beginn des Firngrates

Zwei Stunden später stehen wir nach unzähligen Verhauern und Sackgassen endlich am Beginn des Firngrates. Meine Moral ist völlig im Eimer, die Höhenkrankheit ist auch zurück. Noch aber ist die Luft klar, und uns bietet sich das spektakuläre Schauspiel eines fantastischen Sonnenaufgangs über dem Engadin.

Ein farbenfroher Sonnenaufgang ohne Wolken verheißt meistens schlechtes Wetter - die rötliche Färbung kommt von der erhöhten Luftfeuchtigkeit


Am Grat weht mittlerweile starker böiger Sturmwind, was den leichten Firngrat zu einem hochalpinen Eiertanz macht. Nicht wenige Bergsteiger sind schon von ähnlichen Graten in den Tod geweht worden.
Wenige Minuten bevor der Sturm uns verschluckt bietet sich noch einmal ein schöner Tiefblick

Das Wolkenband wabert jetzt schon über den Malojapass, und wenig später sind auch wir verschluckt. Die Sonne verschwindet hinter diffusen Weiß, Raureif überzieht unsere Klamotten und Gesichter. Na Super. Immerhin schneit es nicht, und so kommen wir einigermaßen zufrieden am Gipfel an. Ohne Handschlag geht es hier weiter, wir beeilen uns den ausgesetzten Abstieg zur Marco e Rosa Hütte schnell hinter uns zu bringen. Nach einigen schwindelerregenden Balanceakten und mehrmaligen Abseilen kommen wir an der Hütte vorbei, doch eine Pause gönnen wir uns immer noch nicht. Zu groß die Angst, dass wir auf den weiten Gletscherflächen zur Bellavistaterasse die Orientierung verlieren könnten. Wir kommen bald in einen Geschwindigkeitsrausch, alle Energiereserven werden mobilisiert. Über die Gletscherzunge des Morteratschgletschers und das Val Morteratsch hinaus rennen wir regelrecht. Und tatsächlich, gleichzeitig mit dem ersten Regentropfen kommen wir am Bahnhof an.


Wir haben nicht einmal zehn Stunden gebraucht für die Tour, für die ich zwei Jahre zuvor noch sechzehn Stunden brauchte...

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