Dienstag, 29. Dezember 2015

Zustiegsski - Winterbergsteigen mit der Geheimwaffe

Es ist ja so eine Sache mit den Hochtouren in den Alpen. Im Sommer ist das Bergsteigen ja ganz angenehm, man friert wenig, es gibt keine Lawinengefahr, man muss nicht viele Klamotten mitschleppen. Leider ist zu dieser Zeit auch verdammt viel los. Bergeinsamkeit? Fehlanzeige. Dazu kommt, dass während der klassischen Hochtourenzeit zumindest in den Ostalpen kaum eine Eistour brauchbare Verhältnisse aufweist. Nordwände sind dann nur noch graue Blankeisflecken, geziert von unzähligen Steinschlagriefen...
Anders dagegen sieht es im Spätherbst und Frühwinter aus. Zum Skitourengehen reicht der Schnee noch nicht aus, zu Fuß dagegen versinkt man im bodenlosen Schnee zwischen den Felsblöcken. Dafür sind Nordwände und Eisrouten meistens in besseren Zustand wie je zuvor. Die kalten Nächte und milden Tage zaubern Eislinien und Trittfirn, wie man sich nur wünschen kann. Klar, die Tage sind auch etwas kürzer, dafür aber hat man quasi von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Zeit, weil die tiefstehende Sonne kaum für einen schlimmen Anstieg der Temperatur sorgt. Anders als imm Sommer, wenn man spätestens mittags wieder im Tal sein sollte.


Doch wie kommt man nun zu den Nordwänden und Eisrouten? Der Zustieg ist der Schlüssel, wenn man nicht hinkommt wird man es nicht klettern. Zu wenig Schnee für Tourenski, zu viel um zu Fuß zu gehen. Mit Schneeschuhen ist man definitiv zu langsam für das Hochgebirge...
Das Zauberwort heißt Zustiegsski. Kurze, leichte Renn- oder Kinderski, 130-140cm lang, ausgestattet mit einer leichten Rahmen- oder Dratbügelbindung. Egal ob klassische Silvretta 404 oder luxuriöse Pure Performance, jede Bindung dieser Art ist unter Vorbehalt mit voll steigeisenfähigen Bergschuhen fahrbar.
Bewaffnet mit solchen Kurzski wird man zur ultimativen unglaublich schnellen Winterklettermaschine. Im Aufstieg bewegt man sich auch bei tiefen Pulverschnee oder Bruchharsch noch so schnell wie im Sommer. Beim Klettern stören die kurzen leichten Ski kaum, zumal man ja auch mit präzisen Bergschuhen klettert, und nicht in klobigen Skischuhen. Reicht der Schnee nicht bis zum Parkplatz, dann kann man mit Bergschuhen die Ski auch bequem ein paar Stunden tragen.


Die Sache hat natürlich auch einen Haken, klar. Denn bergab fahren mit 130cm langen Ski in Bergschuhen ist in etwa wie Badminton mit einer Bowlingkugel: Nämlich sche*ße. Stellt euch mal mit offenen Skischuhen in eine offene Tourenbindung und setzt einen schweren Hochtourenrucksack auf, dann versteht ihr was ich meine. Am Anfang denkt man, das geht doch nie. Aber nach ein bisschen Herumprobieren hat man irgendwann den Trick raus, dass man in Bergschuhen den Ski fast ausschließlich über die Fußsohle steuert. Und wenn man erstmal mit Zustiegsski fahren kann, dann ist das in etwa so, wie wenn man ein dunkles magisches Geheimnis kennt, von dem sonst niemand etwas weiß. Und dann wird man plötzlich zur Nordwandmaschine. 


Natürlich wollte ich auch mal diese Geheimwaffe ausprobieren. Rennski, die leichteste Variante, kam aus Kostengründen nicht in Frage. Also besorgte ich mir ein Paar Fischer Prodigy Junior in 135cm Länge und montierte eine Silvretta Pure Performance Carbon darauf. Immerhin hatte ich so wenigstens die leichteste Bindung für diesen Einsatzzweck, sodass ich bei 1800 Gramm pro Ski herauskomme. Richtig schwer im Vergleich zu Rennski, klar, aber den eigentlichen Vergleich muss dieses System schließlich mit Schneeschuhen bestreiten. Und da ist es klar im Vorteil. Auch die Kinderski zeigen schnell ihre Vorteile gegenüber Rennski: Sie sind auf eine besonders leichte Schwungeinleitung abgestimmt und haben einen langen, fehlerverzeihenden Rocker. So sollen sie eigentlich Anfängern die ersten Schwünge erleichtern, doch mit Bergschuhen ist man auch als erfahrener Skifahrer äußerst dankbar für diese Gutmütigkeit.


Nachdem ich die Ski bereits an der Weißseespitze (Bericht) mit ein paar wenigen Schwüngen auf der präparierten Piste testen konnte soll nun, Anfang November, die Feuertaufe stattfinden: Bewaffnet mit Kinderski, Eisgeräten und einem unbeschreiblich schweren 95-Liter-Rucksack fahre ich mit Bus und Bahn ins Pitztal und mit der Stollenbahn hinauf ins Gletscherskigebiet. Das Geld für das Ticket direkt zum Mittelbergjoch will ich mir sparen, also schleppe ich nun das gigantische Monstrum von Rucksack fünfhundert Höhenmeter über die Pisten nach oben. Ich verkaufe mir selber die Schinderei als Akklimatisierung, naja.
Am Mittelbergjoch angekommen steige ich die leider immer länger werdende Strecke zum Taschachferner ab und schaufle mir auf einem herrlich gelegenem Podest einen Platz für mein Zelt aus. Im Grude soll das mein Basislager sein, doch das kleine Einmannzelt lässt eher Biwakstimmung aufkommen...


Immerhin sitze ich schon um elf Uhr in der Sonne und habe so wirklich genug Zeit zur Akklimatisierung. Am nächsten Morgen stehe ich gleichzeitig mit dem Sonnenaufgang los und schlurfe lange vor Liftöffnung über den Taschachferner. Mein Ziel für heute ist die Nordwand des Hinteren Brochkogels, optisch immer noch eindeutig die schönste Firnflanke der Ötztaler Alpen. Eingebettet von mehreren Felspfeilern ziehen Firnrinnen direkt zum perfekten, pyramidenförmigen Gipfel, oben gekrönt von einem 90° steilen Eiswulst.


Beim Zustieg können die Ski wieder voll überzeugen. Trotz relativ tiefen Schnees komme ich fast zügiger voran als im Sommer, und am Wandfuß angekommen verschwinden die kleinen Ski problemlos am Rucksack. Der ist dann kaum schwerer, als ich Steigeisen und Eisgeräte dagegen getauscht habe und über den Bergschrund klettere. Im unteren Teil überwiegt wieder einmal das wühlen im tiefen Schnee, doch etwa ab Wandmitte stoßen die Steigeisen immer wieder auf hartes Blankeis unter der dünnen Firnauflage. Die Anspannung in mir steigt, genauso wie das Brennen in den Waden. Doch ich fühle mich gut und komme wenigstens schnell voran, sodass ich schon bald unter dem Eiswulst stehe. Zwar reizt mich das direkte überklettern des monströsen Buckels schon, aber ohne Seilsicherung entscheide ich mich doch lieber, in einem linksbogen durch eine etwas flachere Eisrinne auszuweichen. Nach kurzen, aber erbitterten Kampf mit dem harten Eis stehe ich plötzlich unerwartet am Gipfel. Und was für ein Gipfel! der Hintere Brochkogel steht völlig exponiert wie ein Aussichtsturm über dem Taschach- und Vernagtferner. Auf jeder Seite fallen die Grate und Wände sofort steil ab, sodass der Blick wirklich wirkt wie aus dem Flugzeug. Nach kurzer Rast steige ich über den steilen und ausgesetzten Nordgrat ab. Zwischen tiefen Schnee warten auch immer wieder kurze Kletterstellen, bei denen ich nichtmal merke, dass ich ja eigentlich Ski am Rucksack habe. Und so dauert es nicht lange, bis ich am Bergschrund wieder Steigeisen gegen Ski tausche und über die herrlichen Hänge zurück zum Zelt fahren kann. Ich brauche nicht mal zehn Minuten für eine Strecke, für die mit Schneeschuhen über eine Stunde zu veranschlagen wären...



Für den nächsten Tag habe ich mir ein höchst exklusives Ziel gesetzt: Den langen Jubiläumsgrat zur Wildspitze, direkt beginnend am Mittelbergjoch. Vor einem Jahr hörte ich zufällig von dieser Tour, hier am Mittelbergjoch, als wir beim Abfellen nach der Wildspitz-Nordwand (Bericht) uns kurz mit anderen Tourengehern unterhielten. Zwar fiel der Name der Tour, auch das Mittelbergjoch als Startpunkt wurde erwähnt, doch niemand wusste etwas genaueres. Ein Jahr lang spukte diese Tour daraufhin in meinem Kopf herum. Selbst im Internet waren keine Informationen zu finden, Fotos und Google Earth ließen keine Rückschlüsse auf die Schwierigkeiten zu. Ein echtes Abenteuer also, genau das was ich suchte. Entsprechend angespannt war ich also am Abend vor der Tour, frühs konnte ich beim besten Willen nichts essen. Eine Stunde vor Sonnenaufgang stapfe ich bei klirrender Kälte los und wühle mich durch hüfttiefen Schnee vom Mittelbergjoch den steilen Grat zu den Hohen Wänden. Hier sehe ich zum ersten Mal die Sonne, was für eine Wohltat! Den stark überwechteten Gipfel der Hohen Wände umgehe ich im sicheren Abstand auf der Südflanke, hier finde ich sogar guten Trittfirn. Doch das sollte bald vorbei sein... 



Nach eineinhalb Stunden Wühlerei durch tiefen, steilen Schnee in eisiger Kälte offenbart sich mir nun dieser fast schon entmutigende Blick auf den Weiterweg. Das noch weit entfernte Ziel ist der eisige Gipfel der Wildspitze rechts im Bild.
Was nun folgt könnte man eigentlich als eine Ansammlung der schlimmsten Bergsteiger-Abträume beschreiben. Auf und Ab, hüfttiefer Schnee und delikate Kletterstellen in brüchigen Fels, gewürzt mit einem kräftigen Schuss Föhnsturm. Doch ich fühle mich gut, ja, ich würde sogar sagen ich habe mich selten so gut gefühlt, auch wenn es komisch klingt. Und so setzte ich den Auftieg über diesen unbekannten, aber wunderschönen langen Grat auf Tirols höchsten Gipfel fort.
Irgendwann bin ich an der Scharte unter dem Schuchtkogel angekommen. Hier habe ich fast die Hälfte der Kletterstrecke hinter mir, also gönne ich mir eine kleine Pause, nichtsahnend dass der entscheidende Teil erst kommen sollte. Nach der kurzen Rast versuche ich den Vorgipfel des Schuchtkogel zu umgehen, indem ich direkt in die Scharte zwischen Vor- und Hauptgipfel aufsteige. Was leicht aussah entpuppt sich als alpiner Eiertanz über abwärts geschichtete Felsplatten mit loser Schneeauflage, im wahrsten Sinne des Wortes gekrönt von einer 70° steilen Wechte.
So komme ich ohne wirklichen Zeitgewinn am Gipfelgrat des Schuchtkogels an, der sich steil empor windet. Über abschüssige Felplatten, senkrechte Aufschwünge und viel viel Schnee balanciere ich mich nach oben. Der Blick vom Gipfel in die gegenüber liegende Nordwand der Wildspitze ist atemberaubend, doch ich habe kaum eine Sekunde dafür übrig. Ohne anzuhalten folge ich dem leicht abfallenden Grat, der hier fast schneefrei ist und aus bestem Granit besteht. Allerdings bietet dieser Granit auch anspruchsvolle Kletterstellen im oberen dritten Grad, die ich mit Steigeisen und Ski am Rucksack bewältigen muss. Das lässt mich trotzdem noch relativ kalt, ich mache mir eher Sorgen um den Gratgendarm, der sich vor mir aufbaut: Drei große scharfe Granitzacken, senkrecht nach Norden und nach Süden überhängend, jede Spitze höher als ein dreistöckiges Haus. Die Szenerie wirkt wie ein Bergtransplantat von Chamonix nach Tirol. Ein Überklettern ist unmöglich, soviel ist klar. Von den Hohen Wänden aus konnte ich vorhin ein Band ausmachen, dass unter den Spitzen auf der Nordseite entlang führt, doch dieses Band entpuppt sich jetzt als steiler Plattenschuss, der nach unten in eine senkrechte Felsstufe und darunter in eine steile felsdurchsetzte Eiswand abbricht. Was nun? Umkehren? Nein, das wäre auf jeden Fall genauso aufwendig und schwierig. Vorsichtig, auf dem Bauch liegend rutsche ich über den steilen Plattenschuss. Mit den Eisgeräten schaufel ich den Schnee über mir weg, um einen Riss zum Hooken zu finden. Der Schnee rieselt mir in den Nacken, in die Ärmel und läuft als kalte Rinnsale über meinen Rücken. Die Handschuhe sind auch schon klatschnass, doch das alles merke ich erst viel später. Hochkonzentriert arbeite ich mich Stück für Stück über die steilen Platten. Unter dem Schnee warten versteckte, heikle M4+ Kletterstellen. Irgendwann, nach einer gefühlten Unendlichkeit legen sich die Platten doch noch zu einem Band zurück. Von diesem Band muss ich nur noch ein paar Meter durch einen steilen Kamin abklettern, bis ich in der Scharte endlich wieder sicheren Boden unter den Füßen habe.
Erschöpft gönne ich mir noch eine Pause, diesmal weiß ich sicher, dass das Schwierigste nun hinter mir liegt. Es folgt noch ein weiterer schrofiger Gipfel, danach stehe ich am Rofenkarjoch. Hier beginnt der eigentliche Nordostgrat zur Wildspitze, ein feiner Firngrat, den viele Bergsteiger fälschlicherweise für den Jubiläumsgrat halten. Dieses letzte Stück wird häufig begangen, dabei ist es im Grunde nur der krönende Abschluss des eigentlichen Jubiläumsgrates, sozusagen das Sahnehäubchen. Das Gelände hier ist einfach, nach der Kreuzerschneide, der Schulter der Wildspitze folgt noch ein kurzes 50° steiles Stück zum Nordgipfel. Mittlerweile merke ich die Anstrengung und vor allem die Höhe, ich schaffe kaum zehn Schritte ohne Pause. Trotzdem komme ich irgendwann am Nordgipfel an, und natürlich gehe ich auch gleich weiter über den Verbindungsgrat zum höheren Südgipfel.
Nach etwas über sechs Stunden Kletterei schlage ich am Gipfelkreuz an, hinter mir liegen Schwierigkeiten von 70° im Eis, Fels bis III und Mixedgelände bis M4+, solo. Und der Berg scheint mir zu gratulieren, ich werde mit einer unglaublichen Fernsicht belohnt, außerdem bin ich ganz allein bei Windstille am Gipfel. Vom Skidepot aus folgt wieder eine entspannte Abfahrt zum Zelt, doch heute sind meine Spuren nicht so elegant...

Am nächsten Morgen packe ich alles zusammen und steige ganz in der Früh auf zum Mittelbergjoch, um über das Skigebiet abzufahren. Ich bin extra vor dem ersten Lift aufgestanden, denn so kann keiner sehen, wie ich mit dem riesigen Rucksack mit Bergschuhen und Kinderski ins Tal wackle. An der Gletscherzunge des Mittelbergferners ist auch die Schneegrenze, danach sind fast 800 Höhenmeter Skitragen angesagt. Mit Bergschuhen aber kein Problem.



Direkt vom Pitztal aus fahre ich mit Bus, Bahn und wieder Bus ins hintere Stubaital, wo ich an der Talstation der Gletscherlifte übernachte. Am nächsten Morgen treffe ich mich mit Marko und meinem Vater, zusammen fahren wir mit dem ersten Lift ins Schaufelkarjoch und schwingen ein paar hundert Meter hinunter ins Gaiskar. Wir wollen die Nordwand des Zuckerhütl klettern, aber irgendwie mit ganz unterschiedlichen Ansätzen: Marko ist mit leichten Ski mit Pinbindung und leichten, aufstiegsorientierten Tourenschuhen unterwegs, mein Vater dagegen hat breite Ski mit Freeridebindung und abfahrtsorientierte Schuhe dabei. Und ich vertraue natürlich wieder auf Bergschuhe mit Kinderski...




Als derart bunt zusammengewürfelte Truppe kommen wir trotzdem schnell am Wandfuß an. Ski werden gegen Eisgeräte getauscht und schon wühlen wir uns jeder in seinem eigenen Tempo die Wand hinauf. Im Mittelteil sorgt ein kurzer, 65° steiler Blankeisaufschwung für ein bisschen Spannung, doch danach ist wieder Wühlen angesagt.



Der Ausstieg zum Gipfelgrat führt über verschneite Felsen. Zwar ist die Kletterei nicht wirklich schwierig, aber eben ziemlich fotogen. Also klettere ich voraus, finde einen Felsvorsprung und fange an zu Knipsen. Dieses Hindernis liegt schnell hinter uns und wir können wohlverdient Gipfelrast machen. Auch ein Verhauer bei der Abfahrt, der nochmal viel Zeit kostet, kann diesen Bergtag nicht mehr ruinieren. Eine weitere Spitzentour, die durch die Zustiegswaffe stark erleichtert wurde!






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